Ina Krabbe

Funkelsee – Flucht auf die Pferdeinsel (Band 1)


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Sie wischte sich mit dem Taschentuch über die Augen und straffte die Schul­tern. Ihre Stimme klang zittrig, als sie antwortete: »Ich habe Sybill gestern gefunden. Sie lag im Haupthaus am Fuß der Treppe auf dem Boden ... und ... sie war be­wusst­los.« Sie holte tief Luft und Malu merkte, wie sehr sich die alte Frau zusammenreißen musste, um weiterzusprechen. »Wahr­scheinlich ist sie die Treppe heruntergefallen ... Ich weiß gar nicht, was sie da gemacht hat. Hoffentlich hat sie nicht lange dort gelegen. So alleine ...« Sie schluchzte kurz auf. »Sybill war ja nicht mehr besonders gut zu Fuß ... Was wollte sie nur da oben? Warum hat sie mir nichts gesagt?«

      Malu biss sich auf die Lippen. Es war klar, warum Sybill nichts zu ihrer Schwester gesagt hatte. Schließlich stritten sich die beiden Damen ununterbrochen – hatten sich ununterbrochen gestritten, verbesserte sie sich selber. Aber scheinbar hatte Gesine trotzdem an ihrer Schwester gehangen, das wurde Malu jetzt klar. Erwachsene waren echt nicht einfach zu verstehen!

      Von jetzt an würde Gesine von Funkelfeld ganz allein in dem riesigen Schloss leben. Malu musste schlucken und drängte die Tränen zurück, die in ihren Augen brannten. Obwohl sie Sybill nicht besonders gemocht hatte, war es schwer vorstellbar, dass sie jetzt nicht mehr da sein sollte und nie wieder mit ihrem Gehstock über den Schlossplatz laufen würde.

      Und was war mit ... Papilopulus? Schon wieder durchfuhr es sie heiß. Das Pferd hatte Sybill gehört, was würde jetzt mit ihm geschehen? Sie hatte sich zwar nicht mehr ums Füttern und um den Stall gekümmert, das hatte immer ihre Schwester übernommen, die noch wesentlich fitter war. Malu selber hatte natürlich auch geholfen, wo sie konnte, aber trotzdem gehörte Papilopulus Sybill – hatte ihr gehört. Gerade noch rechtzeitig konnte Malu sich bremsen. Jetzt war wirklich nicht der richtige Zeitpunkt, um diese Frage zu stellen.

      »Das ... das tut mir so leid«, murmelte sie stattdessen.

      Aber Gesine von Funkelfeld schien sie gar nicht zu hören, sie war schon wieder in ihre eigene Gedankenwelt versunken. »Jetzt bin ich die letzte«, murmelte sie. »Die letzte von uns vieren. Sybill war immer die Vernünftigste von uns und Esmeralda, die war die Lustigste.« Plötzlich riss sie die Augen auf und betrachtete Malu eindringlich. »Du erinnerst mich so an Esmeralda, weißt du, Malu. Als sie klein war. Die gleichen Locken und das helle Lachen, sie war so ein fröhliches Kind, bis ...«

      »Es tut mir leid«, stammelte Malu noch einmal. Sie wusste einfach nicht, was sie sonst sagen sollte. Von einer Esmeralda hatte sie bis jetzt noch nie etwas gehört. Gab es noch eine Schwester? Und wieso sprach sie von uns vieren? Aber vielleicht war die alte Dame von dem Schock auch nur verwirrt.

      Malu trank ihren Tee so hastig aus, dass sie sich die Zunge verbrannte. Sie wollte nur noch eins: nach draußen – zu Papilopulus! So schnell es die Situation zuließ, verabschiedete sie sich und floh aus dem Haus.

      Vor der Wohnungstür hielt sie ihr Gesicht in die warmen Sonnenstrahlen, froh, der kalten Küche entkommen zu sein. Sie rannte über den Platz zur Weide zurück und ­lehnte sich dort über die Holzbohlen. Papilopulus graste friedlich vor sich hin. Er wusste nichts von dem Tod, der Einzug gehalten hatte auf Schloss Funkelfeld. Und er musste sich auch keine Gedanken darüber machen, was jetzt mit ihm und dem Rest des Anwesens passieren würde.

      Malu drehte sich um und betrachtete das marode Schloss. Na ja, eigentlich war es eher ein Schlösschen. Das Hauptgebäude war ein dreistöckiger, ehemals gelb verputzter Bau mit hohen Fenstern, die von breiten Stuck­ver­zie­run­gen umrahmt wurden. Zwei Türme ragten aus dem Dach hervor, einer mit einem kleinen Balkon vor der Fenstertür. Das wäre ihr Zimmer, wenn Malu sich eines hätte aussuchen können. Sie würde morgens auf den Balkon gehen und als Erstes einen Blick auf die Weide werfen, um nach Papilopulus zu sehen.

      Eine breite Treppe führte zu der doppelflügeligen Holztür, die auf beiden Seiten von steinernen Hunde- und Löwenfiguren bewacht wurde. Aber vor dieser Truppe würde sich niemand mehr fürchten, den meisten waren Ohren und Beine abgefallen, von manchen fehlte sogar der ganze Kopf.

      Rechts und links grenzten die etwas niedrigeren Wohn­trakte ans Haupthaus, in denen früher die Ange­stell­ten gelebt hatten. Jetzt wohnten hier nur noch die beiden Fun­kelfeld-Schwestern, Sybill hatte den linken Trakt be­wohnt und Gesine lebte im rechten. Die kleinen An­ge­stell­ten­wohnungen waren leichter zu heizen und die alten Damen hatten hier nicht so weite Wege zurücklegen müssen.

      Das Hauptgebäude war seit Jahrzehnten unbewohnt. Trotzdem putzte Malus Mutter zweimal im Jahr durch alle Zimmer. Besonders gründlich widmete sie sich der Bi­blio­thek, deren Regale immer noch bis zur Decke mit Büchern angefüllt waren. Hier hatte Malu ihrer Mutter sogar gerne geholfen, die dicken, in Leder gebundenen Bände abzustauben, die schon lange keiner mehr las. Es lag eine ganz besondere Stimmung über diesem Raum. Ob Sybill von Funkelfeld vielleicht dort gewesen war? Vielleicht hatte sie ein bestimmtes Buch gesucht? Malu schüttelte den Kopf. Aber warum? Sie hätte ja ihre Mutter bitten können, es ihr zu holen.

      Eine schwere Pferdeschnauze legte sich auf ihre Schulter und Malu wurde es ganz warm ums Herz. Und auch wenn es absolut unpassend war, durchströmte sie wie immer ein Glücksgefühl, als sie die vertraute Wärme des riesigen Pferdes an ihrer Seite spürte. Aber vielleicht hätte Sybill von Funkelfeld sie ja sogar verstanden. Sie streichelte über die samtenen Nüstern. »Was ist alter Junge, sollen wir mal eine Runde drehen?«

      Sie holte das Halfter mit dem Führstrick, das an der Stallwand über einem Haken hing, und streifte es Papilopulus über. »Lass uns durch den Schlosspark gehen, wer weiß, wie lange wir das noch können«, murmelte sie.

      Malu schob den Balken zur Seite, der die Weide verschloss. »Na komm, Dickerchen. Ein bisschen Bewegung wird dir guttun.«

      Sie ging mit dem Pferd an den leeren Ställen vorbei, die sich im rechten Winkel an den Wohntrakt anschlossen, bis zu einem Durchgang in der Mitte, der in den Schlosspark führte. Dabei war Park vielleicht ein zu großes Wort für die Wildnis, die sich hier breitgemacht hatte. Die Wege waren nur noch schmale Pfade, von beiden Seiten zugewachsen, aber man konnte noch die Hecken erkennen, die früher einmal ordentlich die Beete eingefasst hatten. Jetzt wucherte und blühte alles bunt durcheinander. Im hinteren Teil des Gartens stand sogar noch ein altes Gewächshaus, durch dessen löchriges Dach Palmenblätter hervorguckten.

      Malu führte das Pferd unter den tief hängenden Zweigen einer Trauerweide hindurch bis zu ihrem Lieblingsplatz, der kleinen Wiese, von der aus man über das sanft abfallende Gelände bis zum Funkelsee blicken konnte.

      Ruhig lag das Wasser vor ihr und blinkte in der Sonne. Funkelsee war wirklich genau der richtige Name für dieses Gewässer, in dessen Mitte eine große Insel lag – die Pferdeinsel. Gesine hatte ihr erzählt, dass sie früher die Stuten und ihre Fohlen mit einem Transportfloß auf die Insel gebracht hatten, damit sie dort ungestört grasen konnten, und während des Krieges hatten sie einen Teil ihrer Pferde dort versteckt. Einer Legende nach sollte auf der Insel sogar ein Schatz versteckt sein – der Schatz vom Funkelsee!

      Malu seufzte. Wie schnell konnte das alles hier für sie vorbei sein. Von wegen sechs herrliche Wochen! Sie be­trach­tete Papilopulus, der ganz still dastand und auch zur Insel hinüberschaute, als ob er wusste, dass dort seine Vor­fahren gelebt hatten. Aber vielleicht war er ja auch ­selber schon dort gewesen? Das musste sie später mal Gesine fragen.

      Vielleicht würde ja alles wieder gut werden. Gesine von Funkelfeld würde Schloss und Pferd von ihrer Schwester erben und für Malu würde alles so weitergehen wie bisher. Sie schämte sich ein bisschen für diesen Gedanken, denn natürlich würde für Sybill nie wieder alles gut werden, aber sie konnte nichts dagegen tun – sie wünschte es sich so sehr!

      Gedankenverloren dröselte sie die verknoteten Mähnen­haare auseinander, während sie über die ruhige Wasser­fläche schaute. Aber dann blieb ihr Blick an etwas hängen.

      Was war das? Malu kniff angestrengt die Augen zusammen. Ganz weit draußen auf dem See sah sie einen winzigen Punkt, der sich langsam übers Wasser bewegte.

      3. Kapitel

      Ein