Ina Krabbe

Funkelsee – Flucht auf die Pferdeinsel (Band 1)


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lag der Raum vor ihr. Das Einzige, was sich bewegte, waren die unzähligen Staubpartikel, die im Sonnenlicht tanzten, das durch das hohe Fenster fiel. Deckenhohe Holzregale zogen sich rundherum an den Wänden entlang und in der Mitte teilte eine breite Regalwand den Raum. Zwei niedrige Sessel mit einem Tischchen daneben luden zum Lesen ein, aber es gab wohl niemanden mehr, der die Einladung annahm.

      Um an die obersten Bücher in den Regalen zu kommen, gab es eine kleine, fahrbare Leiter, die Malu gerne benutzt hatte, wenn sie mit ihrer Mutter hier gewesen war, um die Bücher abzustauben. Wenn man sich kräftig an einer Wand abstieß, konnte man damit einmal quer durch den Raum gleiten.

      Aber jetzt ließ Malu die Leiter links liegen und ging zu dem kleinen Stehpult am Fenster. Es war nicht leer wie sonst, ein kleiner Holzkasten mit geöffnetem Deckel stand darauf. Papiere quollen daraus hervor. Als Malu sie näher anschauen wollte, entdeckte sie die zierliche Lesebrille, die obenauf lag. Die Bügel waren aufgeklappt, so als ob sie nur mal eben jemand zur Seite gelegt hätte ... Malu schluckte und sah sich hastig um. War jemand hier gewesen? Oder noch schlimmer: War hier immer noch jemand? Sie lauschte angespannt. Aber es war kein keuchender Atem zu hören und auch kein Gerassel. Nein, sie schüttelte den Kopf. Viel wahrscheinlicher war ... Sie nahm die Brille hoch und sah sie sich genauer an. Ja, das war die Brille von Sybill von Funkelfeld. Sie musste also gestern in der Bibliothek gewesen sein. Vielleicht hatte sie etwas gesucht? Aber warum hatte sie dann ihre Brille nicht wieder mitgenommen, als sie gegangen war? Und sie hatte die Papiere einfach so liegen lassen. Das passte gar nicht zu der ordentlichen alten Dame, bei der ihre Mutter immer alles supergründlich bis in die kleinste Ecke putzen musste.

      Nein, bestimmt war sie durch irgendetwas gestört worden, hatte ihre Brille abgelegt, um nachzusehen ... Malu legte die Brille aufs Stehpult zurück, ging zur Tür und trat ins Treppenhaus. Und dann? Hatte Sybill von unten ein Geräusch gehört? Oder jemanden gesehen? Dann wollte sie vielleicht die Treppe heruntergehen und ist gestolpert. Oder war hier oben jemand gewesen und hatte sie erschreckt? Ganz klar, das war der rote Junge aus den Büschen. Wie praktisch! Tatatata! Malu musste grinsen. Die Superdetektivin Malu Baumgarten hatte das Rätsel gelöst. Sie las wohl eindeutig zu viele Krimis!

      Malu schüttelte den Kopf und ging zurück zum Stehpult. Die Brille faltete sie vorsichtig zusammen und legte sie an die Seite. Dann warf sie neugierig einen Blick auf die Zettel in der Schatulle. Ja, natürlich schnüffelte man nicht in den Sachen von anderen Leuten herum. Aber das hier war ja irgendwie ein Sonderfall. Sie nahm sich das oberste Papier und versuchte die spitze Handschrift zu entziffern.

      Hosenmoppel und Losenpoppel

      Gingen zum Dosenzottel,

      Um nach dem Riesentrottel

      Einen Mottenkottel zu werfen.

      Häh?! Was sollte das denn? Malu griff nach dem nächs­ten Zettel.

      Am Feldesrand der schwarze Baum,

      Der stand da nur in meinem Traum.

      Gesichter guckten draus hervor,

      Es war kalt hier und ich fror.

      Gestrandet hier im Niemandsland,

      Nur der Körper lag im kalten Sand.

      Die Seele war schon fortgegangen,

      War nicht länger hier gefangen.

      Oh, wow! Ob das aus der Feder des Barons stammte oder gab es etwa noch mehr Dichter in der Familie Funkelfeld? Hatte Sybill von Funkelfeld versucht, ihrem Vater nachzueifern? Und dann ihre Gedichte hier versteckt? (Was vielleicht auch besser so war.)

      Das nächste Gedicht war wieder lustiger.

      Ein Riesenkakadu

      Sagte zur bunten Kuh:

      Hier haste den Schuh.

      Die wollte aber vier,

      Da schrie das Tier

      Nicht mit mir!

      Und so ging es weiter. Unzählige Verse lagen in dem Kasten, manche fröhlich und verrückt, viele auch etwas unheimlich. Aber das alles gab keinerlei Hinweis darauf, ob Sybill von Funkelfeld von jemandem gestört worden war. Vielleicht war sie auch einfach ein bisschen wunderlich im Alter geworden und hatte ihre Brille hier vergessen, dachte Malu und seufzte. Also doch kein großes Rätsel.

      Sie räumte die Zettel in die Schatulle, legte die Brille oben drauf und schloss den Deckel behutsam. Das Käst­chen würde sie für Gesine mitnehmen, vielleicht sagten ihr die merkwürdigen Gedichte ja etwas und sie wollte sie vielleicht gerne als Andenken an ihre Schwester haben.

      Die Familienchronik hatte Malu schnell gefunden. Der rote Lederband stand direkt im Regalbrett hinter dem Stehpult, so wie Gesine gesagt hatte. Sie stellte das Käst­chen darauf und machte sich dann auf den Rückweg. Der Wälzer war verdammt schwer und sie musste ihn unten in der Halle kurz ablegen, um eine Pause zu machen und ihre Arme auszuschütteln.

      Als sie die schwere Holztür aufschob, traf die Hitze sie wie ein Schlag. Es war ihr gar nicht aufgefallen, wie kühl es hinter den dicken Mauern gewesen war. Sie legte ihre schwere Fracht vorsichtig auf der obersten Stufe ab und zog die Tür sorgsam hinter sich zu. In diesem Moment fuhr ein silberner Audi auf den Schlossplatz und ein kleiner, dicker Mann mit schwarzem kurzgelocktem Haar stieg aus. Er holte einen Aktenkoffer vom Rücksitz und sah sich suchend um. Als er Malu entdeckte, winkte er ihr kurz zu und verschwand dann in der Wohnung von Gesine von Funkelfeld. Das war wohl der Anwalt, von dem ihre Mutter gesprochen hatte.

      Malu schnappte sich wieder das Buch und die Schatulle und folgte dem Mann langsam ins Haus. Frau von Fun­kelfeld und ihre Mutter standen noch mit dem Anwalt im Flur, als Malu durch die Haustür trat. Sie hörte seine Bei­leidswünsche und dann bat die alte Dame ihn ins Wohn­zimmer.

      Malus Mutter wollte sich gerade mit ihrer Tochter in die Küche zurückziehen, da hielt Gesine sie zurück. »Rebekka, komm doch bitte mit. Ich fühle mich noch etwas schwach.« Dann lächelte sie Malu zu. »Du kannst auch gerne dabei sein, Malu. Es ist kein großes Geheimnis, was Herr Maus­witz mir zu sagen hat.« Sie hakte sich bei dem Mann unter und ging mit ihm vor. »Herr Mauswitz ist schon seit Jahr­zehnten der Anwalt der Funkelfelds, wie schon vor ihm sein Vater, nicht wahr, mein Lieber? Auch wenn jetzt nicht mehr viele von uns übrig sind.«

      Der dicke Mann tätschelte etwas unbeholfen Gesines Hand. »Aber, aber, meine Teuerste. Dafür werden wir be­stimmt noch Ihren Hundertsten feiern.«

      Herr Mauswitz schien nicht so begeistert, als Malu und ihre Mutter den beiden ins Wohnzimmer folgten, aber Malu war froh, dass sie mitdurfte. Vielleicht hatte Sybill ja auch einen letzten Willen über Papilopulus hinterlassen. Und mein treues Pferd Papilopulus hinterlasse ich Malu Baumgarten, denn da ist es am besten aufgehoben. So etwas in der Art. In ihren Büchern wäre das jetzt jedenfalls so gewesen. Sie seufzte. Aber das hier war eben die Wirk­lichkeit. Trotzdem, manchmal geschahen ja auch Wunder!

      Malu legte die Familienchronik und die Holzkiste auf dem kleinen Sekretär ab, der neben dem Fenster stand.

      Dann nahmen alle Platz. Gesine von Funkelfeld und Rebekka auf dem geblümten Sofa, Herr Mauswitz sank in den tiefen Ohrensessel gegenüber und Malu setzte sich auf den Stuhl, der zum Sekretär gehörte.

      Der Anwalt räusperte sich. »Liebe Gesine, ich habe Arno schon angerufen ...«

      Malu schaute überrascht auf. Von einem Arno hatte sie noch nie gehört. Und hier im Schloss hatte sie nie jemand anderen gesehen als die beiden Schwestern.

      »... Er wird morgen kommen und sich um die Be­erdigung seiner Mutter kümmern«, redete Herr Mauswitz weiter.

      Sybill hatte also einen Sohn!

      Gesine von Funkelfeld sah den Anwalt aufmerksam an. Sie schien nicht überrascht zu sein. Aber klar, dieser Arno war dann ja ihr Neffe, das war natürlich nichts Neues für sie.

      »Das ganze Anwesen und Sybills Besitz gehen dann jetzt auf ihn über, wie es bei den Funkelfelds seit jeher Brauch ist«, erklärte Herr Mauswitz.

      Gesine von