Harry Voß

Ben und Lasse - Agenten außer Rand und Band


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werde knallrot.

      Herr Jung sieht mich an: „Von mir aus. Aber beeilt euch bitte.“

      Ich seufze und gehe mit Lasse vor die Tür. Ausgerechnet jetzt, wo es Eis gibt, muss kein anderer aufs Klo als mein kleiner Bruder. War ja klar. Wir müssen uns echt beeilen, sonst essen die alles ohne uns auf. Wir gehen den Flur entlang. Alles ist still und leer. Hier ist wirklich keiner unterwegs, wie es Herr Hohmann angeordnet hat. Dann kommen wir an der Ausstellung in der Eingangshalle vorbei. Irgendetwas ist anders, denke ich im Vorbeigehen. Hängen die Bilder in einer anderen Reihenfolge? Egal. Wir haben keine Zeit und gehen so schnell wie möglich zu den Toiletten. Lasse verschwindet in einer der Toilettenzellen. Ich höre, wie der Klodeckel nach hinten gedonnert wird, kurz darauf ein Strullern und von Lasse ein tief seufzendes: „Aaaaaaaaaah.“

      Ich gehe in dem kleinen Flur vor den Zellen auf und ab und warte, bis Lasse fertig ist. Durch das kleine Klofenster sehe ich, wie die Wolken recht schnell am Himmel entlangziehen. Draußen ist es sehr windig. Den gepflasterten Weg hinter der Schule kann ich nicht erkennen, weil das Fenster höher angebracht ist als mein Kopf. Ist ja auch richtig so, denn niemand will, dass jemand von außen reinschauen kann, wie man hier pinkelt. Außerdem ist draußen sowieso nichts Besonderes zu sehen, denn das Fenster geht nicht nach vorne zum Schulhof, sondern nach hinten. Ich schaue mir die Wolken an und warte, bis Lasse fertig ist.

      Plötzlich sehe ich, wie etwas großes Braunes von oben am Fenster vorbei nach unten fällt. Fallen da etwa schon vor lauter Sturm die Backsteine von der Schule? Ich gehe ans Fenster. Das Fensterbrett ist so hoch, dass ich mit meinen Händen gerade so eben dran komme. Aber wenn ich mich fest daran klammere und mit den Füßen an der Wand hochlaufe, kann ich mich so weit hochziehen, dass ich mich mit den Unterarmen auf dem Fensterbrett abstützen kann. Vor dem Fenster steht ein Lieferwagen von einer Reinigungsfirma. Ein Eimer und ein Putzlappen sind auf der Seite aufgemalt, „Putz und Blitz“ steht in blauen Buchstaben daneben. Zwei Männer in weißen Latzhosen stehen davor. Der eine hält ein braunes Päckchen in der Hand, fast so groß wie eine Tischplatte, und legt es hinten in den offenen Wagen. Ich glaube, das ist das, was da gerade heruntergeworfen wurde. Was ist das? Eine Schranktür? Was Putzleute alles sauber machen müssen … Der andere Mann schaut nach oben und gibt mit erhobenem Daumen ein Zeichen, dass das Paket ohne Schaden unten angekommen ist. Dann steigen die Männer ins Auto und starten den Motor.

      In diesem Augenblick kommt Lasse aus seiner Zelle: „Was guckst du da, Ben? Bist du neugierig?“

      „Ich gucke gar nichts.“ Ich lasse mich von der Fensterbank gleiten und springe auf den Boden. „Die Putzfirma hat ihr Auto beladen und fährt weg.“

      Lasse grinst. „Und das findest du spannend?“

      „Spannender als dir beim Pinkeln zuzuhören.“ Ich gehe auf die Ausgangstür zu und zeige auf das Waschbecken. „Hände waschen nicht vergessen.“

      Als wir durch die große Halle gehen, um zurück zu meiner Klasse zu gelangen, weiß ich plötzlich, was sich verändert hat: Das teure Bild hinter der Glasscheibe hängt nicht mehr da. Die Scheibe ist noch wie vorher an der Wand angebracht. Das Bild dahinter fehlt. Sicher wurde es in ein extra Geheimversteck gebracht, damit ihm hier nichts passiert.

      „Schau mal, Ben“, ruft Lasse auch gleich. „Da fehlt ein Bild!“

      „Ja, das ist mir auch gerade aufgefallen“, sage ich.

      „Ist das geklaut?“

      „Ja“, gebe ich zurück. „Ich habe es in meine Schultasche gesteckt. Aber sag’s keinem weiter.“

      Lasse bleibt stehen und haut sich erschrocken auf den Mund. „Wirklich?“ Er legt seinen Kopf schief. „Aber das Bild ist doch viel zu groß für deine Schultasche!“

      „Das war ein Witz, Lasse. Ich weiß nicht, wo das Bild ist. Wahrscheinlich hat es jemand abgehängt, damit morgen eure wertvollen Gemälde vom Malwettbewerb dort aufgehängt werden können. Die sind ja jetzt auch mehrere Millionen Euro wert.“

      Lasse grinst und setzt sich wieder in Bewegung. „Das kann natürlich sein, Ben. Boah, das wird klasse! Alle aus der Schule werden vor unseren Bildern stehen und staunen! Und damit sie keiner klaut, hängen sie hinter Glas! Was für eine tolle Idee!“

      Ich schüttle den Kopf und gehe auf meine Klasse zu. Während ich die Tür öffne, sehe ich am Ende des Flures, wie Herr Merkendorf, unser Hausmeister, mit einer Leiter in der Hand aus dem Werkraum kommt. Von wegen, niemand darf sich im Flur aufhalten.

      Zum Glück haben die anderen gerade erst mit dem Eisessen begonnen, als wir zurück in den Klassenraum kommen. Wir bekommen also auch noch unsere Portion. Herr Jung ist gerade dabei, unsere gemalten Bilder zu loben: „Ich staune über so viele gute Ideen. Das zeigt mir, dass in jedem von euch schon ein guter Gedanke über Gott steckt. Wenn wir also über Gott reden und über das, was wir tief in unserem Herzen glauben, dann müssen wir nicht bei null anfangen. Jeder von uns hat einen Glauben. Und es ist gut, wenn wir miteinander darüber ins Gespräch kommen.“

      Gerade will Herr Jung auf eins der Bilder zeigen, als wir von draußen aus der Halle einen schrillen und lauten Schrei hören. Alle in der Klasse erschrecken und schauen zur Tür. Drei Sekunden halten alle die Luft an. Auch Herr Jung und Frau Aust. Dann beginnen einige Mädchen zu schreien und alle anderen tuscheln laut und aufgeregt miteinander. Dann höre ich eine Frauenstimme, die hysterisch kreischt: „Herr Hohmann! Herr Hohmann!“

      „Los, wir müssen nachschauen!“, brüllt Tobias und erhebt sich schon von seinem Stuhl.

      Herr Jung beruhigt ihn: „Nein, das müssen wir nicht.“ Trotzdem geht er mit schnellen Schritten auf die Klassenzimmertür zu und schließt sie ab. Er legt sein Ohr an die Tür und lauscht, dann geht er wieder nach vorne zur Tafel und atmet einmal tief ein und aus. „Wenn dort draußen etwas Gefährliches passiert, dann ist es umso wichtiger, dass wir hier in der Klasse bleiben. Und wenn draußen nichts Gefährliches und auch nichts Schlimmes passiert, dann gibt es keinen Grund für uns, warum wir nach draußen gehen sollten. Wenn etwas geschehen ist, das uns alle angeht, werden wir sicher später darüber informiert. So, und jetzt esst in Ruhe euer Eis zu Ende.“

      Damit sind alle einverstanden. Trotzdem fühlen wir uns merkwürdig in einer Klasse mit abgeschlossener Tür. Was geht hier vor sich?

      In der großen Pause spricht sich schnell herum, was hier passiert ist: Das kostbarste und teuerste Bild ist in der vergangenen Schulstunde gestohlen worden. Obwohl vor der Schule und in der Halle ohne Unterbrechung der Sicherheitsdienst auf und ab gegangen ist, ist das Gemälde, das heute Morgen noch hinter Glas gehangen hat, verschwunden. Vor der leeren Glasscheibe steht eine dicke Traube von Schülern, die sich das alles ganz genau anschauen wollen und unzählige Geschichten darüber erzählen, wer hier angeblich was gesehen und gehört und erfahren haben will. Ein paar Lehrer drängen die Schüler immer wieder von der Bildergalerie zurück, aber sie haben keine Chance. Es werden immer mehr Schüler, das Gedränge wird immer stärker.

      Herr Hohmann kommt zusammen mit zwei Polizisten in die Halle. Hinter ihnen kommt Frau Schwan, die Schulsekretärin, hergeklackert und drückt einen Stapel Ordner an ihre Brust. „Macht Platz! Macht sofort Platz!“, höre ich den Rektor rufen, während er grob die ersten Schüler zur Seite schiebt. Die Menge teilt sich. Schüler springen nach rechts und links zur Seite. Herr Hohmann drängt sich bis direkt vor die große Scheibe, hinter der heute Morgen noch „Venus und Amor als Honigdieb“ hing. „Da!“, sagt er fassungslos zu den beiden Polizisten und zeigt auf die Scheibe. „Es ist einfach weg. Und die Scheibe ist verschlossen wie immer.“

      Einer der Polizisten fasst an den Rand der Scheibe und rüttelt daran. Sie bewegt sich nicht.

      Herr Hohmann dreht sich zu seiner Sekretärin um. „Wer hat alles einen Schlüssel für diese Verglasung?“

      „Ich weiß nicht.“ Frau Schwan hat die Augen weit aufgerissen. „Herr Merkendorf?“

      „Der Hausmeister?“

      „Ja.“