Rachel Elliott

Bären füttern verboten


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      Ich bin acht, als ich zum ersten Mal einen toten Menschen sehe. Mum und ich sind im Flannery’s, dem Kaufhaus, in das wir jeden Sommer gehen. Bevor wir den Toten finden, suchen wir nach einem Geburtstagsgeschenk für Dad.

      Ich hab’s, sagt Mum. Autohandschuhe.

      Diese Worte setzen einen schwierigen Entscheidungsprozess in Gang, der dreiundfünfzig Minuten dauern wird.

      Wir stehen vor einem langen gläsernen Tresen und betrachten fünf Paar lederne Autohandschuhe, die alle mehr kosten, als Mum ausgeben möchte.

      Drehen wir eine Runde?, sagt sie. Das ist ihr Geheimcode für Ich glaube, wir zwei müssen uns mal unterhalten. In diesem Fall bedeutet er Lass uns ein bisschen umhergehen, damit wir in Ruhe überlegen können:

      schwarz oder braun

      schick oder praktisch

      langlebig oder preisgünstig

      oder sollen wir ihm eine Origami-Eule basteln?

      oder sollen wir ihm eine Pilz-Quiche backen?

      Wir durchqueren einen Dschungel aus Unterwäsche, und ich höre ihr zu, ohne sie zu unterbrechen.

      Als wir am Aufzug vorbeikommen, taucht wie aus dem Nichts ein Mann auf und hält uns ein Sprühfläschchen mit Parfüm entgegen.

      Auf keinen Fall, sagt Mum und hebt die Hand.

      Jasmin und Iris, sagt der Mann.

      Das bezweifle ich sehr, sagt Mum. Das ist alles künstlich, und wahrscheinlich enthält es Pferdeurin.

      Ganz bestimmt nicht, sagt der Mann.

      Ist nicht Ihre Schuld. Sie müssen ja auch Ihren Lebensunterhalt verdienen.

      Ich schäme mich in Grund und Boden. Das ist nicht das erste Mal, dass sie in aller Öffentlichkeit über Pferdeurin spricht.

      Mum?, frage ich.

      Ja, Sydney.

      Wonach riecht Pferdeurin?

      Nach Jasmin und Iris. Und ich will nicht, dass du das in deine Lunge kriegst, womöglich geht das nie wieder raus.

      Ich bin verwirrt.

      Jetzt stehen wir erneut vor dem Glastresen und betrachten die Handschuhe.

      Da sind Sie ja wieder, sagt die Verkäuferin. Haben Sie sich entschieden?

      Mum holt entschlossen Luft, als wollte sie etwas sagen.

      Doch es kommt nichts.

      Oje, seufzt sie schließlich.

      Die Verkäuferin lächelt. Sie heißt Vita, wie das Namensschild auf ihrer Seidenbluse verrät. Vitas Haare sehen sehr seltsam aus, als wäre ein schwarzer Helm aus dem All gefallen und auf ihrem Kopf gelandet. Sie sind vollkommen glatt und wie eine Kugel geschnitten, mit einem schnurgeraden Pony, der bis zu ihren Augen reicht. Ein Bob, so heißt das. Das weiß ich da noch nicht, aber ich werde den Ausdruck später verwenden, wenn ich mich an den Toten erinnere und Ruth davon erzähle.

      Ich suche nach Antennen, die aus dem Helm ragen, nach außerirdischer Überwachungstechnik. Nein, nichts zu sehen. Nur makellos glänzendes Plastik. Hübsch und zugleich enttäuschend.

      Sie sehen aus wie eine von meinen Playmobilfiguren, sage ich. Sie haben genau die gleichen Haare.

      Ist das gut oder schlecht?, fragt Vita.

      Ich spüre, dass ich mit der Antwort etwas falsch machen könnte, und schaue zu Mum.

      Oh, sie liebt ihre Playmobilfiguren, sagt Mum. Sie bindet ihnen Schnüre um den Bauch und lässt sie sich an der Hauswand abseilen. Gleich wollen wir noch einen Cowboy dazukaufen.

      Wie nett, sagt Vita. Sie blickt auf die Handschuhe. Sind die für Sie?, fragt sie.

      Nein, sagt Mum. Es sind ja Männerhandschuhe, nicht?

      Natürlich, sagt Vita, die merkt, dass sie vom Weg abgekommen ist, ihren Part vergessen hat.

      Also gut, sagt Mum.

      Sie ist gestresst, wie meistens, wenn sie Geld ausgeben soll. Ich stehe auf den Zehenspitzen, und wir starren alle drei auf die Handschuhe, als würden wir darauf warten, dass sie etwas Aufregendes tun, zum Beispiel von allein den Platz wechseln.

      Doch Vita ist keine Zauberin. Zumindest nicht während der Arbeitszeit. Niemand weiß, was sie tut, wenn sie nach Hause kommt.

      (Wir ahnen zu diesem Zeitpunkt nicht, dass Vita zum Beispiel eine Polizeiuniform anzieht, die sie in einem Kostümgeschäft gekauft hat, und damit spätabends durch die Straßen geht. Ein paar Tage später, als Mum es in der Lokalzeitung liest, bezeichnet sie es als absolut faszinierend.

      Mum findet alles Mögliche faszinierend, und sie versucht, diese Begeisterungsfähigkeit auch in meinem Bruder und mir zu wecken.

      Sie, während wir durch den Wald gehen: Findest du dieses Blatt nicht faszinierend, Sydney?

      Ich, mit dem Blick nach unten: Geht so.)

      Ich glaube, ich nehme die, sagt Mum zu Vita und zeigt auf Paar Nummer drei, das in der Mitte. Das ist ungewöhnlich, denn normalerweise nimmt Mum immer das Billigste.

      Ausgezeichnete Wahl, sagt Vita.

      Ich wette, das hätten Sie bei jedem Paar gesagt, sagt Mum. Dann wird sie nervös und fängt an, ganz schnell zu reden. Das war unhöflich, sagt sie. Aber so habe ich es nicht gemeint, ich dachte nur, Sie müssen bestimmt den ganzen Tag nette Sachen zu den Leuten sagen. Das gehört zu Ihrer Arbeit, so was zu sagen wie ausgezeichnete Wahl, nicht?

      Ohne zu antworten, packt Vita die Handschuhe erst in Seidenpapier und dann in eine Tüte. Die Tüte ist steif und eckig und pfirsichfarben, mit dem Aufdruck Flannery’s in großen, geschwungenen Buchstaben auf der Seite. Nächste Woche, wenn wir aus den Ferien zurück sind, wird Mum darin Umschläge sammeln und in dem Seidenpapier das Einzugsgeschenk für eine Freundin verpacken. So was nennt man einfallsreich und kreativ, wird sie zu Jason und mir sagen, während wir unsere Cornflakes essen und uns ihren endlosen Vortrag über unsere Wegwerfgesellschaft anhören. Mum hält uns gerne Vorträge. Ihre Lieblingsthemen sind Verschwendung, Profitgier und die Bedeutung von Langeweile für Kindergehirne. Was den letzten Punkt angeht, bräuchte sie sich keine Sorgen zu machen – mein Gehirn und Jasons sind supergesund, vor allem dank dieser Vorträge.

      Endlich sind wir fertig. Wir lassen Vitas Helm und ihre Parfümwolke hinter uns und machen uns auf den Weg in die Spielzeugabteilung im vierten Stock. Vor uns liegt jetzt eine Bahn, eine Piste, ein Labyrinth aus Teppichwegen. Ich bewege mich, so schnell ich kann, ohne zu laufen, und Mum sagt, langsam, Sydney, renn doch nicht so. Sie weiß, was los ist, was in mir vorgeht: dass ich vorausstürmen will, die Hände ausgestreckt nach allem, woran ich hochklettern und wovon ich runterspringen kann. Gleich wird sie mir wieder einen Vortrag halten, über Sicherheit und darüber, was man tut und was nicht, es sei denn, man ist a) ein deutlich jüngeres Kind auf einem Spielplatz oder b) eine Sportlerin, die für die Olympiade trainiert. Ich bin weder a) noch b), also welcher Buchstabe bin ich? Manchmal n) wie nervtötend oder w) wie wild, aber meistens u) wie unartig. Aber ich verstehe einfach nicht, warum die Leute sich so komisch bewegen, so roboterartig, immer nur kleine Schritte. Warum springen sie nicht umher, erkunden all die Oberflächen, probieren unterschiedliche Geschwindigkeiten aus, machen neue Bewegungen anstatt immer nur rechts, links, schön ordentlich und immer auf dem Boden?

      Um zu den Spielsachen zu kommen, muss man durch die Bettenabteilung. Meine Augen werden ganz groß. Lauter Trampoline und weiche Landemöglichkeiten. Ihr könnt eure Süßigkeiten, eure Puppen und euer Fernsehen behalten. Viel lieber wäre mir eine halbe Stunde allein auf diesem Hindernisparcours, wo ich von Matratze zu Matratze springen kann.

      Aber heute bin ich brav. Ich stelle Mums Geduld nicht auf die Probe, wie sie es nennt. Ich gehe, wie es sich gehört.

      Bis ich einen Mann auf einem der Betten liegen sehe, auf zwei Kissen gestützt. Er fällt