Ich war frisch verstorben und noch nicht richtig tot, und du warst eine süße Kleine in einer Latzhose und einem gestreiften T-Shirt, die meine roten Socken bewunderte.
Während du mit deiner Mum im Auto gesungen hast, hat ein Polizist bei Marias Eltern an die Tür geklopft. Seine Worte drangen in das Haus ein wie ein Waldbrand: eine lodernde Feuerwalze, die wie aus dem Nichts den Stadtrand überrollte.
Du weißt nie, was als Nächstes passiert. Das sagen die Leute ständig. Aber ich würde sie am liebsten schütteln oder ihnen ans Schienbein treten, damit sie den Satz wirklich ernst nehmen, erkennen, dass es keine Floskel ist, sondern eine Tatsache, die alles auf den Kopf stellen kann. Denn glaub mir, es kann in jedem verdammten Augenblick vorbei sein. Vergiss das nicht, okay? Nimm nie etwas für selbstverständlich.
Ich sollte mich wohl bei dir bedanken, Sydney Smith, weil du mich für autobiografische Zwecke verwendest. Deine Zeichnung ist großartig. Ich sehe aus, als würde ich schlafen. Ich wünschte, ich würde schlafen. Ich war noch nie Teil eines Graphic Memoir. Oder überhaupt irgendeines Buchs. Hätte ich das gewusst, als ich noch lebte, dass ich gleich am Anfang eines Buchs vorkommen würde, hätte ich das groß gefeiert. Das habe ich zum Glück richtig gemacht. Ich habe einfach alles gefeiert. Natürlich nicht mit großem Pomp. Schließlich kann man ja auf alle möglichen Arten feiern. Indem man Brot backt. Oder alle Fenster öffnet. Oder ihr sagt, wie schön sie ist.
Ihr.
Ja.
Meine Güte, du hast mich aufgerüttelt, Sydney Smith. Darf ich dich im Gegenzug um einen Gefallen bitten? Kannst du mich in die Hände einer Frau namens Maria Norton geben? Ich wäre so gerne noch einmal in ihren Händen. Ich weiß, ich bin klein und unbedeutend, was das große Ganze und diese Geschichte angeht, aber vielleicht könntest du aus mir ja einen Kieselstein an einem Strand machen? Du könntest mich hart und glatt und schön machen. Angenehm in der Hand, von bläulichem Weiß. Und eine Frau namens Maria Norton könnte mich aufheben und bewundern, mich zwischen ihren Fingern hin und her bewegen und dann ins Meer werfen. Ich würde mit einem kaum hörbaren Plätschern versinken.
Bitte gib mich in ihre Hände.
Vielen Dank schon mal, Sydney.
Ich würde mich freuen, von dir zu hören.
Herzliche Grüße
Andy
PS: Ich war für Maria mehr als ein Kieselstein. Ich war der ganze verdammte Strand. Ich war der Sand und das Wasser, die Fische und der Meeresboden, die Wolken, die Möwen, der Müll. Ich weiß nicht mal, was aus ihr geworden ist. Ich weiß nicht mal, wo sie ist.
Bist du für jemanden der ganze Strand, Sydney?
Ich hoffe es. Ich hoffe es wirklich.
Bären füttern verboten
Sag mal, was möchtest du eigentlich an deinem Geburtstag machen?, fragt Ruth.
Ach, wahrscheinlich das Übliche, sagt Sydney, die am Herd steht und Kaffee kocht.
Das Übliche, sagt Ruth.
Wenn das okay ist, sagt Sydney.
Beide schweigen.
Sydney schenkt den Espresso in zwei blau-weiß gestreifte Tassen und stellt eine davon vor Ruth auf den Tisch.
Vielleicht können wir ja nach deinem Geburtstag irgendwo essen gehen, sagt Ruth. Bevor du wegfährst?
Gute Idee, sagt Sydney.
Sie weiß, dass gerade etwas Wichtiges geschehen ist: ein Augenblick liebevoller Rücksicht. Ruth hätte ihren Frust, ihre Missbilligung zeigen können, hat es aber nicht getan.
Aber ich bin ja nur eine Woche weg, sagt sie.
Ich weiß. Hast du schon ein Zimmer gebucht?
Ja, gestern. Sorry, hab ich vergessen zu sagen.
Hast du das B&B bekommen, das du haben wolltest?
Ja, hat alles geklappt.
Ich glaube, das tut uns beiden mal gut, sagt Ruth.
Meinst du?
Ruth nickt. Es tut doch jedem gut, wenn er mal ein bisschen für sich ist.
Wahrscheinlich hast du recht, sagt Sydney. Ich sollte mich jetzt besser wieder an die Arbeit machen. Wenn du willst, reden wir später noch mal darüber. Reservier uns doch irgendwo einen Tisch.
Okay, sagt Ruth.
Oben setzt Sydney sich an ihren Schreibtisch und zeichnet Ruths Unzufriedenheit als einen Braunbären, der den Kopf bis zum Boden hängen lässt. Dieser Bär ist ein unausgesprochenes Wesen, aber sie spürt manchmal, wie er durch das Haus tapst, kann beinahe seine schweren Schritte auf der Treppe hören. Wenn sie ehrlich ist, freut sie sich darauf, ihm zu entkommen, wenn sie für eine Woche zum Freerunning und Zeichnen runter an die Küste fährt. Ist das schlimm? Sie fügt ihrer Zeichnung ein Schild hinzu: BÄREN FÜTTERN VERBOTEN.
Dann legt sie das Blatt in eine Holzkiste und macht sich an die Arbeit. Sie betrachtet die Zeichnung von Vita, wie sie in einer Polizeiuniform durch eine dunkle Straße schleicht. Dann Jason, wie er sorgsam die Innereien eines alten Radios in einen Plastikbehälter packt und ihn dann im Garten vergräbt. Sie legt die beiden Zeichnungen beiseite und konzentriert sich auf die, die noch nicht fertig ist, von ihrer Mutter, wie sie in einem Café auf eine Fremde zugeht.
Unten in der Küche flucht Ruth leise: Herrgott noch mal.
Warum muss es jedes Jahr gleich ablaufen? Ein paar Tage vor Sydneys Geburtstag stellt sie die immer gleiche Frage, in der Hoffnung, dass sie vielleicht einen langen Spaziergang machen werden, essen gehen, irgendwohin fahren, wo sie noch nie waren. In der Hoffnung, dass sie den Tag zusammen verbringen.
Aber nein.
Sydney will das tun, was sie immer tut: auf eine Wand zurennen, mit zwei Schritten daran hochlaufen, sich abstoßen und mit einem Rückwärtssalto landen. So will sie ihren siebenundvierzigsten Geburtstag verbringen. Sie benutzt ein Geländer als Achse, um die ihr Körper eine Dreihundertsechzig-Grad-Drehung vollführt. Natürlich nicht in Rock und Pullover. Sie wird eine locker sitzende Hose anziehen, dazu ein Langarmtop mit einem T-Shirt darüber und eine Mütze, und allein in die Stadt ziehen wie ein halbwüchsiger Junge. Das ist ihr Ritual. Wird sie das auch noch machen, wenn sie sechzig oder siebzig ist? Wenn ihre Knochen das nicht mehr so leicht mitmachen werden?
Ruth knirscht mit den Zähnen. Ist es denn so falsch, sich einfach ein bisschen Normalität zu wünschen?
Wobei Normalität natürlich Definitionssache ist. Was für den einen normal ist, ist für den anderen seltsam. Ja, ja, das weiß Ruth alles. Und Freerunning ist beeindruckend, klar. Das endlose Training, die spezielle Ernährung, die Sit-ups und Pushups, die Disziplin und der Drive. Man muss stark sein, körperlich wie seelisch, und natürlich anmutig. Aber wie würdest du dich fühlen, wenn deine Lebensgefährtin jedes Mal, wenn ihr zusammen in die Stadt geht, eine Art Superheldinnen-Akrobatik veranstaltet? Es ist atemberaubend und nervtötend, fantastisch und peinlich. Parkour ist die dritte Person in ihrer Beziehung, und nächste Woche wird sie wieder einmal mit Sydney in der Stadt verschwinden, um ihren Geburtstag zu feiern. Déjà-vu. Wenigstens ein Mal in den vierzehn Jahren, die sie jetzt zusammen sind, würde Ruth gerne diejenige sein, die sie ausführt. Nur sie beide. Keine locker sitzende Hose, keine Turnschuhe und vor allem keine Backflips.
Ruth trinkt ihren Kaffee und versucht sich zu beruhigen.
Nein, es ist keine gute Idee, raufzugehen und Sydney anzubrüllen. Sie arbeitet an ihrem Buch. Es hat ewig gedauert, bis sie mit diesem Projekt angefangen hat, bis sie sich überhaupt dazu durchringen konnte. Sei nicht egoistisch. Ha! Ich, egoistisch? Wer von uns ist denn hier egoistisch! Hör auf, Ruth. Denk an was Positives.
Okay, hier ist etwas Positives:
Sydney abends beim Freerunning mit