Rachel Elliott

Bären füttern verboten


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einem Kreis.

       Bezugspunkt

      Seltsam, wie ein Ort sich verändert und zugleich überhaupt nicht.

      Gestern ist Sydney in St. Ives aus dem Zug gestiegen, der Stadt, die sie seit zwei Jahren zeichnet und malt. Oben in ihrem Arbeitszimmer hat sie diese Straßen, diese Küste, dieses Meer wiederauferstehen lassen – ihre eigene Version davon, aus dem Gedächtnis. Jetzt ist sie wirklich hier, und sie hat alle angelogen, eine andere Küstenstadt genannt, behauptet, sie sei anderswo.

      Die Lüge war ihr leichtgefallen, was sie überraschte. Sie hat immer gedacht, sie sei eine schlechte Lügnerin. Diese Entdeckung war befreiend, aber auch verstörend.

      Sie war froh, dass sie den Januar gewählt hatte. Es war kalt und ruhig, und das fühlte sich richtig an. Und trotz des Winters war das Licht dasselbe. Ihre Mutter hatte immer gesagt, das Licht hier unten würde Farben hervorbringen, die das Auge sonst nicht sehen könne. Deshalb kommen die ganzen Künstler hierher, sagte sie. Und wenn ich mir deine Bilder so anschaue, wirst du bestimmt auch noch hierherkommen, lange nachdem wir damit aufgehört haben.

      Da hatte ihre Mutter sich geirrt.

      Sie hatten alle genau zur selben Zeit aufgehört, hierherzukommen, nämlich nach dem sechsten Mal, das so abrupt endete.

      Sind wir wirklich sechs Mal hierhergekommen, Liebes?

      Ja, Mum.

      Meine Güte. Da waren wir aber nicht sehr abenteuerlustig.

      Das stimmt nicht, Mum. Wir haben jeden Winkel hier erforscht, weißt du nicht mehr? Wir sind meilenweit an der Küste entlanggegangen und haben uns alles ganz genau angesehen. Und wir haben gelesen, Ausstellungen besucht und Federball und Tennis gespielt. Wir hatten Drei-Gänge-Menüs, Picknicks, Pasteten und Fish & Chips. Wir waren im Kino und angeln und in der großen Stadt mit dem Kaufhaus.

      Tut mir leid, Liebes. Ich wusste nicht, dass du immer noch so an diesem Ort hängst.

      Soll das ein Witz sein?, sagte Sydney.

      Es war eine dunkle Verbindung. Ambivalent. Eine, die sie wollte und auch wieder nicht.

      Sie fragte sich oft, was sie sagen würde, wenn jemand ihr anböte, die Erinnerungen an diesen Ort aus ihrem Gedächtnis zu löschen, wie in dem Film Vergiss mein nicht!. Würdest du Erinnerungen loslassen, die zugleich deine schönsten und deine schlimmsten sind?

      Die Zeichnungen für ihr Buch sind an einem kritischen Punkt angelangt.

      Sie gehen bis zum Urlaub Nummer fünf, danach ist Schluss.

      Wenn sie sich Urlaub Nummer sechs zuwendet, setzt der Stift aus, bricht die Mine.

      Das Storyboard ist erstarrt. Ihre Gedanken wollen da nicht hin.

      Okay, hat sie zu ihrem unordentlichen Zeichentisch gesagt. Was, wenn meine Füße dahin gehen? Wenn mein Körper dahin geht? Hilft das?

      Aber ich will da nicht hin, hat sie gedacht, wie ein störrisches Kind.

      Sydney läuft durch den Sand. Sie hat bis jetzt drei von den Stränden des Ortes besucht, und dieser ist immer noch ihr Lieblingsstrand. Die anderen sind zu hübsch, zu ruhig. Der hier lässt ihre Haare in alle Richtungen fliegen. Der Untergrund ist steiniger und dunkler, und die Wellen können durchaus gefährlich sein.

      Sie bleibt stehen und sieht den Hunden bei ihrer Morgenrunde zu. Bewundert, wie sie rennen oder springen, die Umgebung erforschen oder bei Fuß bleiben, den Gerüchen und Ablenkungen folgen, sich dabei aber immer wieder umschauen, nach ihrem Besitzer, ihrem Bezugspunkt, den sie auf keinen Fall verlieren dürfen. Manche sind schlank und muskulös, andere wuselig und kurzbeinig. Da ist ein anhängliches kleines Wollknäuel, das eifrig den Gummistiefeln seiner Besitzerin folgt und sich für nichts anderes interessiert als für sie. Andere sagen mit spielerischen Gesten, komm, fang mich, oder ich fange dich, egal, Hauptsache, wir haben Spaß. Hunde fragen nicht nach dem Warum. Sie fressen, weil der Napf vor ihnen steht. Sie rennen, weil ihr Körper rennen will.

      Sie vermisst Otto. Eigentlich albern, schließlich ist sie erst einen Tag fort. Sie blickt auf die Uhr. Jetzt ist er bestimmt mit Ruth draußen, tobt über die Felder und denkt nicht an sie. Und so soll es ja auch sein. Beim nächsten Gedanken krampft sich ihr Magen zusammen: Ruth, die auch nicht an sie denkt. Sie bekommt Panik. Was ist, wenn. Was ist, wenn Ruth auszieht, während sie hier ist. Wenn sie ihre Sachen packt und sie irgendwo einlagert. Wenn sie zu Howard zieht, was nicht so abwegig ist, wie es klingt – wahrscheinlich hätte er lieber sie als Tochter.

      Diese Gedanken kommen nicht von ungefähr. Sydney hat eine Ahnung, ein leises Gefühl, dass Ruth sich von ihr entfernt. Dass es irgendwo da draußen eine Frau gibt, die sie glücklicher machen könnte, und auch wenn Ruth diese Frau noch nicht gefunden hat, könnte sie sich nach ihr sehnen. Sollte es sogar. Es wäre furchtbar und schmerzhaft, wenn sie ginge, aber auch verständlich. Sydney hat Schuldgefühle, weil sie sich schon so lange an Ruth festhält, und so ein Gefühl zieht einem wie feuchtes Wetter bis in die Knochen und beeinträchtigt alles. Auf jeden Fall beeinträchtigt es ihr Freerunning, das merkt sie. Sie ist angespannter als sonst. In ihren Muskeln steckt eine neue Vorsicht.

      Sie sprintet die Stufen zur Galerie hoch, zahlt den Eintritt, nimmt sich ein Infoblatt. Aber Sydney ist nicht wegen der Kunst hier.

      Mir gefällt die Form des Gebäudes, sagt sie.

      Aha, sagt der Galeriemitarbeiter.

      Das ist selbst schon Kunst, wenn auch auf hässliche Weise, sagt sie.

      Hmm, sagt der Galeriemitarbeiter und fingert an seinem Hemdkragen herum. Das Thema ist außerhalb seines Zuständigkeitsbereichs. Er ist nicht hier, um über das Gebäude zu sprechen. Er ist hier, um über Öffnungszeiten, Wechselausstellungen und Dauerexponate zu sprechen. Er blickt auf seine Computertastatur und hofft, dass die Frau weitergeht.

      Sydney betritt den Ausstellungsraum. Ihr Körper ist bereit, loszulaufen. Er ist immer bereit. Schon von Geburt an war sie so, unablässig in Bewegung, ist aus ihrem Bettchen geklettert und später über den Esstisch gelaufen und auf die Arbeitsfläche gesprungen. Von der Arbeitsfläche auf den Hocker. Vom Hocker auf das kleine Sofa in der Küchenecke. Wunderbar federnde Landung, und dann noch einen Vorwärtssalto, einfach so. Radschlagen über den Teppich, durch den Flur laufen, am Treppengeländer hochklettern und wieder runterrutschen. Überall Kratzer und blaue Flecken, aber es fühlt sich so gut an. Die ganze Welt gehört ihr, aus jeder Oberfläche kann sie etwas machen. Darauf kann man rutschen, und das ist ein Sprungbrett und das eine Rennbahn und –

      Sydney Oriel Smith, sagte ihre Mutter mal, während sie sie mit Jod und einem Pflaster verarztete. Warum kannst du nicht mehr fernsehen, so wie andere Kinder? Was ist mit Sooty? Magst du den nicht mehr gucken?

      Sooty ist doof, sagte Sydney, zog ihre weißen Strümpfe hoch und wickelte sich den Schal ihres Vaters um den Hals.

      Warum trägst du Dads Schal?

      Weil ich ihn schön finde.

      Ist das nicht gefährlich für ein Mädchen, das gerne am Geländer hochklettert und wieder runterrutscht?

      Das ist eine sehr kluge Bemerkung, sagte Sydney.

      Oh, vielen Dank, sagte ihre Mutter.

      Als sie ein Kind war, gab es nur wenige Worte für das, was sie so gerne tat. Es gab akrobatisch, lebhaft, gefährlich. Es gab hyper-aktiv, furchtlos, präzise.

      Später, als sie erwachsen war, veränderte sich die Sprache. Sie lernte die Ursprünge, die Fachbegriffe, die Konzepte, die erklärten, wer sie war.

      Und sie hörte, wie die Leute von Flow sprachen. Damit meinten sie völliges Aufgehen in dem, was man tut, sich in einer angenehmen Beschäftigung verlieren, ohne jedes Gefühl für die Zeit.

      Einmal sprach sie mit einem Freund darüber, einem Freistilkletterer.

      Geht