ist es nun mal. Ihr Menschen seid ein stinkender Haufen.
Und diese Frau, die auf Belle und mich zuläuft und dann stehen bleibt, riecht, als wäre sie durch Regen gelaufen, aber es hat heute nicht geregnet. Sie trägt so viel Wetter. Ihr eigenes Klima, dunkel und feucht. Ich schnuppere an ihrer Jacke – sie ist trocken. Die Frau riecht nach Nebel, Moos, nassem Beton und Benzin. Sie riecht nach Flüssen und Unkraut und verbranntem Rhabarber. Da ist die Frische von klarem Wasser. Und da Moder und Salz, Melasse und Laichkraut.
Ich schaue sie an. Sie lächelt mir zu. Ich möchte an ihrer Hand lecken, wissen, wonach sie schmeckt.
Ganz schön groß, sagt sie zu Belle.
Aber total lieb, sagt Belle, und mir fällt auf, wie der Geruch ihrer Haut sich verändert, als sie das sagt; da ist auf einmal Holzrauch und Vanille.
In dieser Frau sind so viele Schuldgefühle, Belle. Wenn ich könnte, würde ich es dir sagen. Sei vorsichtig, das ist wie eine Flutwelle. Ich bin zwar ganz schön groß, aber mit ihren Schuldgefühlen könnte sie mich sofort umhauen.
Was hat sie getan, Belle? Was um alles in der Welt hat sie nur getan?
Mark Rothko
In der Nacht in dem B&B passiert es Sydney zum ersten Mal seit Jahren wieder. Sie hat einen Albtraum. Denselben, den sie zwischen zehn und dreiunddreißig immer wieder hatte. Seit sie Ruth kennengelernt hat, schläft sie gut und träumt von anderen Dingen. Manche davon machen ihr auch Angst, aber nicht so wie dieser.
Die Details des Traums verändern sich, aber die Geschichte ist immer dieselbe.
Diesmal ist sie in der Galerie, dem Weißen Raum.
Der Raum ist lang und schmal und geht aufs Meer hinaus.
Manchmal klatschen die Wellen gegen das Fenster.
Die Wände sind mit Rothkos bedeckt.
Alle Bilder sind schwarz und rot.
Sie sitzt auf einer langen Bank aus schwarzem Leder.
In diesem Traum trägt sie eine rote Hose, ein braunes T-Shirt und schwarze Handschuhe.
Sie ist barfuß.
Sie blickt auf das Bild vor ihr, eine riesige Farbfläche.
Das Bild hat weder Anfang noch Ende.
Sie nähert sich ihm, berührt es mit ihren behandschuhten Fingern.
Dieses Bild durchschaut sie. Es weiß, was sie nicht zeichnen kann.
Es weiß, was sie getan hat und was sie verloren hat und warum der Anblick unschuldiger, unbeschwerter Freude für sie unerträglich ist.
Es weiß, warum sie sich stets abwendet, wenn Kinder fröhlich spielen.
Ja, Mark Rothko versteht, und das ist tröstlich. Tröstlicher, als sie mit Worten ausdrücken kann. Deshalb breitet sie die Arme aus, so weit sie kann, wie ein barfüßiger Fischer, der zeigen will, wie groß sein Fang ist, wie ein Mädchen, das sagen will, so sehr liebe ich dich.
Danke, sagt Rothko. Freut mich, wenn ich helfen konnte.
Dann hört sie die Stimme einer Frau.
Das kann doch nicht sein, sagt die Stimme.
Bist du das?, fragt die Stimme. Bist du es wirklich?
Sydney dreht sich um.
Der Raum hat keine Tür, nur eine rechteckige Öffnung, einen leeren Türrahmen.
In diesem Türrahmen steht ihre Mutter.
Dahinter kann Sydney das stählerne, kalte Rauschen der Wellen hören, das stählerne, kalte Rauschen von Rothkos Pinsel.
Na, so ein Zufall, sagt ihre Mutter.
Mum?
Komm her und gib mir einen Kuss.
Mum?
Ja, Liebes.
Was tust du hier?
Ich lebe hier.
Was soll das heißen, du lebst hier?
Gleich da unten am Strand. Ich habe eine sehr hübsche Wohnung, klein, aber für mich reicht es. Warum hast du mich nie besucht? Ich habe die ganze Zeit gedacht, du kommst mal vorbei.
Was?
Warum hast du nicht nach mir gesucht, Sydney? Warum hast du einfach aufgegeben?
Was soll das heißen? Was meinst du damit? Es ist so schön, dich zu sehen, Liebes. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich freue.
Mum, ich verstehe nicht –
Wie groß du geworden bist. Wie alt bist du jetzt?
Warum sollte Dad lügen? Warum?
Alles ist gut, meine Süße. Jetzt sind wir zusammen.
Du bist nicht gestorben, sagt Sydney.
Ich bin nicht gestorben, sagt ihre Mutter.
Schneefrau
Es ist der Samstag vor Weihnachten, und sie haben sich gerade The Little and Large Show und Dallas angesehen. Es ist schon spät, aber das scheint keinem von ihnen aufzufallen. Sie sitzen alle im Schlafanzug da und essen Erdnüsse und Chips, Howard im einen Sessel, Sydney im anderen und Jason wie immer auf dem Sofa ausgebreitet.
Am Morgen haben sie den Baum geschmückt.
Zum ersten Mal ohne sie.
Nein, sagte Jason, du musst erst die Lichterkette aufhängen, dann das Lametta und dann die Kugeln.
Tut mir leid, sagte Howard.
Schon gut.
Wo sind die Schokoladenweihnachtsmänner?, fragte Sydney.
Was?
Die Schokoladenweihnachtsmänner.
Ich glaube, die habe ich vergessen, aber ich kann Montag noch welche besorgen.
Ich schreibe sie auf die Liste, sagte Jason.
Welche Liste?
Die Einkaufsliste für Weihnachten. Wir haben dir letzte Woche Bescheid gesagt, sie hängt an der Pinnwand.
Natürlich, sagte Howard.
Sie drapierten die Lichterkette über die Zweige, schalteten sie ein und vergewisserten sich, dass alle Lämpchen brannten. Dann verteilten sie das Lametta von oben nach unten. Jason saß auf dem Fußboden, sortierte das Durcheinander von Baumschmuck auf unterschiedliche Häufchen und entwirrte die Fäden. Jetzt müssen wir aufpassen, dass alles gleichmäßig verteilt wird, sagte er, damit wir nicht lauter gleiche Sachen nebeneinander haben.
Sie fanden alle, dass das sehr wichtig war.
Sie waren sorgfältig, gaben sich Mühe.
Keiner von ihnen erwähnte die Kassette mit Weihnachtsmusik, die sie früher immer angemacht hatte, während sie den Baum schmückten. Sie hatten gestöhnt, nicht schon wieder, die ist so kitschig, und jetzt sehnten sie sich danach, sie zu hören, und hatten Angst davor, sie zu hören, und das war nur eine von vielen Verwirrungen.
Wonach riechst du?, fragte Jason.
Was meinst du?, fragte Howard.
Du riechst komisch.
Das ist wahrscheinlich die Mundspülung, sagte er.
Sydney und Jason sahen sich an. Seit wann galt Whisky als Mundspülung?
Draußen schneite es.
Salz, das vom Himmel in offene Wunden fiel.
Ihre Mutter liebte Schnee. Sie liebte