Rachel Elliott

Bären füttern verboten


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wenn du kletterst?

      Ich fühle mich überhaupt nicht wie ein Mensch, sagte er.

      Das hatte sie auch schon von anderen gehört – dass der Verstand abschaltet und man aufhört zu denken. Die Welt um einen herum wird intensiv und langsam, und der Körper bewegt sich mit animalischer Präzision. Je größer das Risiko, desto stiller der Kopf. Es gibt keine Angst, keine Sorgen, keine Vergangenheit und keine Zukunft. Nur dieses Anheben des Beins. Nur dieses Ausstrecken des Arms.

      Es ist die reinste Form von Freiheit, die Sydney je erlebt hat.

      Sie dreht eine Runde durch die Galerie, bleibt ein paarmal kurz stehen, um ein Gemälde, einen Holzschnitt, einen Druck zu betrachten, dann geht sie die Treppe hinauf und sucht sich ihren eigenen Weg, über eine Toilette, ein Fenster, eine Feuerleiter und ein Gerüst, um zum höchsten Punkt des Gebäudes zu gelangen, einem halbrunden Vorsprung, einem Dach auf dem Dach, weiß gestrichen. Privat. Zutritt verboten. Ein illegaler Höhepunkt.

      Sie setzt sich in den Schneidersitz, legt ihren Rucksack ab und nimmt ein Sandwich, eine Flasche Wasser, zwei in Küchenpapier gewickelte Kekse und eine Tüte Chips heraus. Dies ist der perfekte Ort für ein Picknick – niemand, der sie stört, und nichts, was ihr den Ausblick auf Meer, Sand und Klippen versperrt.

      Manchmal ist eine Kunstgalerie keine Kunstgalerie, sondern ein Klettergerüst, ein Ausguck, ein Leuchtturm.

      Von hier oben nimmt ihr Auge statt kleiner Details Muster und Bewegungsabläufe wahr. Kinder und Heranwachsende, die Surfen lernen: erst ein Gewimmel von Neoprenanzügen, dann einzelne schwarze Punkte, die in das Blau hineinhüpfen. Erwachsene, die sich in diagonalen Linien vorwärtsbewegen wie Figuren auf einem Brettspiel, Hunde, die Achten um ihre Beine malen.

      Sie holt ihren Skizzenblock heraus.

      Klar denken kann sie seit jeher am besten, wenn sie hoch oben ist, fernab vom Lärm und Tempo des Lebens anderer Leute, diesen Rhythmen, die ihren eigenen überlagern. Hier oben auf dem Dach, oder auf irgendeinem anderen, kommen die Erinnerungen ohne Mühe zurück. Zum Beispiel, wie ihre Mutter lauter Kaninchen aus rotem Wackelpudding gemacht hat. Oder wie sie freihändig mit Jasons Rad die ganze Straße hoch und wieder runter gefahren ist, weil sie eine Wette gegen ihn verloren hatte. Oder wie sie zu viel Ingwerwein getrunken hatte und alle mit ihr zusammen »You’re the One That I Want« aus Grease singen mussten.

      Sydney zeichnet eine Cartoon-Version von Ila Smith, die sich die Fernbedienung wie ein Mikrofon vor den Mund hält. Sie zeichnet ein Wackelpudding-Kaninchen und eine Frau auf einem Jungenfahrrad.

      Schluss mit den Erinnerungen. Schluss mit der Comicfamilie.

      Sie isst ihr Picknick und beugt sich über den Rand des Vorsprungs. Irgendwie fühlt sie sich hier wie am sichersten Ort der Welt. Sie beugt sich noch ein Stück weiter vor und sieht hinunter auf die Straße. Dann erstarrt sie.

      Jemand beobachtet sie durch ein Fernglas. Eine Frau. Wie lange steht sie schon da? Hier gibt’s nichts zu sehen, Madam, denkt sie.

      Jetzt ruft die Frau etwas. Haben Sie vor zu springen?

      Sydney ist noch keine vierundzwanzig Stunden in St. Ives, und schon gibt es jemanden, dem es nicht egal ist, ob sie lebt oder stirbt. Gar nicht so schlecht, oder?

      Nein, auf keinen Fall. Aber danke!, ruft sie zurück.

      Was?

      Ich mache nur ein Picknick!

      Was?

      Ich sitze hier nur!

      Geht es Ihnen gut?, ruft die Frau. Sind Sie sicher, dass es Ihnen gut geht?

      Was für eine nette Frau, denkt Sydney, aber hätte ich denn wirklich mein Essen mit hier raufgenommen, wenn ich vorhätte zu springen? Sie blickt wieder nach unten, holt ihr Handy aus dem Rucksack, schaltet die Kamera ein und zoomt den Kopf der Frau, ihr Fernglas und den Schaffellmantel heran.

      Jetzt kann ich Sie besser sehen, ruft Sydney.

      Sie hebt die Hand mit hochgerecktem Daumen. Die Frau sieht es und erwidert die Geste, was beide auf eigentümliche Weise tröstlich finden.

      Dann rutscht Sydney wieder ein Stück zurück, außer Sichtweite, damit die Frau nicht auf die Idee kommt, Hilfe zu holen, oder noch mehr Leute auf sie aufmerksam macht. Sie skizziert kurz, was gerade passiert ist.

      Maria Norton lässt ihr Fernglas sinken und starrt auf die Stelle, wo eben noch eine Fremde gesessen hat – nur eine gebogene Linie auf dem Dach, bevor sie durch die Linsen geblickt hat, eine dunkle Linie mit flachsblonder Spitze, wie eine in Gold getauchte Klammer. Etwas, das sie innehalten und hochschauen ließ. Jemand, der ihr ein Daumen-hoch-Zeichen gegeben hat. Sonst fühlt sich ihr Leben meistens an wie Daumen runter, wie ein Lied der Missbilligung, das in Dauerschleife in jeder Zelle ihres Körpers läuft, aber eben hat ihr jemand für einen kurzen Moment ein Zeichen gegeben, das sagte du bist okay und ich bin okay und das, was hier gerade passiert, ist okay.

       Ich ♥ Otter

      Jon Schaefer hört sich Marias Geschichte an, die von der Frau auf dem Dach, einer Frau mit blondem Haar und schwarzgrauen Kleidern. Seiner Frau mit diesem Grad an Aufmerksamkeit zuzuhören, erfordert beträchtliche Mühe, und er ist zufrieden mit sich, wie gut es ihm gelingt. Er produziert eine Reihe von Gesichtsausdrücken und Tönen, jeweils genau zum richtigen Zeitpunkt eingesetzt, um die Geschichte voranzutreiben, in der Hoffnung, dass sie bald ihren Höhepunkt erreicht und dann ausläuft. Jon nimmt an, dass jeder sich so viel Mühe gibt, um seinem Partner zuzuhören, das ist eben so, überall auf der Welt, wie ein zweiter Job, oder nicht?

      Wie konntest du die Frau denn so genau sehen?, fragt er.

      Ich hatte dein Fernglas dabei, sagt Maria.

      Mein Fernglas? Wieso das denn? Ich denke, du hasst mein Fernglas.

      Ich wollte mal sehen, was es mit dem ganzen Theater auf sich hat.

      Welches Theater.

      Das, was du wegen dem verdammten Fernglas veranstaltest.

      Jon seufzt. Er legt seinen Pinsel hin. Das kann dauern. Erst hat sie nur den Kopf zur Tür hereingestreckt, aber jetzt ist der Rest gefolgt, Hals, Rumpf, Arme, Beine und Füße, die ganze Frau, aber vor allem ihre Stimme, immer ihre Stimme, während er versucht, das Meer zu malen. Er blickt auf das große runde Fenster neben seinem Arbeitstisch, das Beste an diesem Raum – wenn er hindurchsieht, fühlt sich sein Leben tipptopp an –, dann wendet er sich wieder seiner Frau zu. Sie redet von einer Fremden. Einer Frau, die sie wahrscheinlich nie wiedersieht. So ist es hier nun mal. Klar gibt es auch Einwohner, aber all die Massen, die hier kommen und gehen, all die Ferienwohnungen, Ferienhäuser, B&Bs. Diese Frau ist also auf ein Dach geklettert. Wahrscheinlich betrunken. Na und? Bestimmt ist sie längst wieder unten und trinkt Pfefferminztee für drei Pfund die Tasse oder kauft eine Schachtel Karamellbonbons. Vielleicht sieht sie sich in einer Galerie eins von seinen Bildern an, denkt, dass es gut in ihr Wohnzimmer passen würde, und überlegt, ob sie sich etwas Gutes tun soll.

      Sie hören, wie die Haustür auf- und wieder zugeht. Dann schwere Schritte auf der Treppe. Es ist Stuart, ihr Irischer Wolfshund, der von seinem Spaziergang zurück ist und sich bei ihnen ein Klopfen und ein Kraulen abholt, bevor er wieder nach unten läuft, zu seinem Abendessen.

      Sie haben sich Stuart nicht ausgesucht, so lautet zumindest die Geschichte, aber wie bei allen Geschichten kommt es darauf an, wer sie erzählt.

      Er war am Strand, räudig und mager, mit einem Namensanhänger, auf dem nur STUART stand. Maria ging dort spazieren. Zuerst hatte sie Angst, als sie in der Ferne das seltsame große Wesen erblickte, das langsam auf sie zukam. Er war violett-grau mit schwarzen Flecken, hatte große, traurige Augen, und sein Gesicht schien sanft zu lächeln. Sie streckte vorsichtig die Hand aus. Er kam näher, ignorierte die Hand und drückte den Kopf an ihren Bauch. Sie legte die Arme um seinen Rücken und fragte sich, ob alle Riesenhunde das taten, ob er vielleicht fror oder Schmerzen hatte, ob er imstande war, sie zu töten.