Rachel Elliott

Bären füttern verboten


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die Tür auf und löst die Leine von Stuarts Halsband. Ein Duft von Gebackenem, vermischt mit einem Hauch Ölfarbe, Musik vom Klassiksender, der den ganzen Tag leise läuft. Sie geht in die Küche und füllt Stuarts Schale mit Trockenfutter.

      Wie er sie ansieht. Wer würde es fertigbringen, ihn zurückzulassen? Was für ein Leben könnte besser sein als eines mit Stuart?

      Ihre Mutter kommt in einem roten Schlafanzug in die Küche.

      Wow, der ist aber knallig, sagt Belle. Ist der neu?

      Den habe ich schon seit Jahren, sagt ihre Mutter. Ich ziehe ihn nur nie an.

      Hast du das von der Frau auf dem Dach gehört?, fragt Belle.

      Ja.

      Anscheinend wäre sie beinahe gesprungen.

      Maria schüttelt den Kopf. Sie saß da und aß ein Sandwich, sagt sie. Aber wer weiß, vielleicht hatte sie vor zu springen.

      Du hast sie gesehen?

      Ja.

      Oh.

      Hmm.

      Kann ich einen davon haben?, fragt Belle und schnuppert an dem Tablett mit Blaubeermuffins.

      Zwei Frauen, zwei Generationen. Die eine trägt seidene Nachtwäsche, um sich aufzumuntern, die andere eine Oversize-Hose und ein lila kariertes Hemd. Sie setzen sich und trinken Tee und sprechen über die Frau, die vielleicht vorhatte zu springen oder auch nicht. Sie fragen sich, was jemanden wohl dazu treibt, so etwas zu tun – sich das Leben zu nehmen, schwere Verletzungen zu riskieren. Belle meint, einen Ausdruck auf dem Gesicht ihrer Mutter zu sehen, den sie nicht erkennt, weil sie ihn schon ihr Leben lang sieht.

      Hast du schon mal?, fragt Belle.

      Was meinst du?, fragt ihre Mutter.

      Ich weiß nicht, sagt Belle und beißt in den Muffin.

      Sie sitzen da und schweigen.

      Zwei Schafe, vollkommen reglos, die an einem frostigen Morgen auf einer Wiese stehen. Das ist das Bild, das Belle jetzt im Kopf hat. Komisch, denkt sie. Es gelingt ihr nie, sich Schafe vorzustellen, wenn sie es will, wenn sie im Bett liegt und nicht schlafen kann, aber an diesem Abend sind definitiv zwei Schafe hier in der Küche, und sie hat das Gefühl, sie ist eines davon.

      Sie sieht ihre Mutter an. Geht’s dir gut, Mum?, fragt sie.

      Natürlich, Liebes, sagt ihre Mutter. Mir geht’s doch immer gut.

      Belle ist heute mit mir rausgegangen. Hat sich bei der Arbeit krankgemeldet, angeblich eine plötzliche Erkältung. Es klang wie eine Ausrede, aber warum sollte ich mich beschweren, wenn ich bei ihr im Bett liegen kann und einen Extraspaziergang kriege?

      Obwohl es Winter ist, steht ein Eiswagen am Strand. Die Leute gehen mit hochgeschlagenem Kragen und flatterndem Schal am Wasser entlang, eine Waffel mit Vanille-, Schoko-, Erdnuss-butter- oder Toffee-Eis in der Hand. Ich weiß nicht, warum, aber ich finde den Anblick romantisch. Belle hat Vanilleeis mit Himbeersoße genommen. In ein paar Minuten wird sie mir die Spitze ihrer Waffel geben. Ich bleibe in der Nähe und sehe sie an, damit sie es nicht vergisst.

      Ich könnte Ihnen so einiges über meine Familie erzählen, Dinge, die ich gehört, gesehen oder gerochen habe. Allerdings weiß ich nicht, ob das loyal wäre, und Loyalität steckt mir im Blut. Wie kann ein Hund gegen sein ureigenstes Wesen handeln, um dieses moralische Dilemma zu überwinden? Glauben Sie mir, das ist wahrlich nicht einfach. Aber jemand hat mich dazu überredet, mir eine Schachtel Hundekuchen versprochen. Dieser Jemand ist Sydney Smith, eine Cartoonistin, die mich in diesem Moment gerade zeichnet, oder, genauer gesagt, unsere erste Begegnung. Sie werden sie gleich sehen, wenn sie sich selbst in das Bild malt, wie sie auf Belle und mich zugelaufen kommt.

      Ich heiße Stuart. Ich bekomme Briefe vom Tierarzt:

      Lieber Stuart,

      ich hoffe, es geht Dir gut. Ich wollte Dir nur kurz Bescheidsagen, dass Deine Impfung bald fällig ist. Also ruf uns doch bitte an, oder falls Dir das zu lästig ist, sag einem von Deinen Besitzern, dass er uns anrufen soll. Bis bald!

      Herzliche Grüße

      Pete Armstrong, Dein freundlicher Tierarzt

      PS: Wenn Du in der Gegend bist, schau doch kurz rein, um Hallo zu sagen und Dir ein Leckerli abzuholen – wir wollen ja nicht, dass Du Angst hast, zu uns zu kommen!

      Nett, oder? Am liebsten würde ich diese Briefe in einer hübschen Holzschachtel sammeln, aber da ich das nicht übermitteln kann, landen sie im Altpapier, sobald mein Termin gemacht ist.

      Ich bekomme Post, weil ich nicht mehr heimatlos bin. Maria hat mich gefunden und mit nach Hause genommen. Ich mochte sie vom ersten Moment an – dieser Schaffellmantel, ein bisschen angeschmuddelt und zu groß, und ihre wilden Haare, genauso zottelig wie meine. Als wir uns begegnet sind, habe ich als Erstes den Kopf an ihren Bauch gedrückt, warum, weiß ich nicht.

      Belle ähnelt ihrer Mutter, aber ihr würde diese Bemerkung gar nicht gefallen. Die genervten Seufzer, die die meisten vermutlich gar nicht bemerken, aber ich schon. Die endlosen Spaziergänge und die Angewohnheit, abends stehen zu bleiben und in anderer Leute Fenster zu schauen. Sind alle Menschen so neugierig? Beide wirken dann traurig, als hätten sie das, was sie hinter den Fenstern sehen, verloren. Wenn ich wüsste, was es ist, würde ich es aufspüren und herbringen. Belles Eltern denken, sie wäre rundum zufrieden, weil sie das denken wollen; so können sie weiter um sich selbst kreisen.

      Das bringt mich auf Jon. Den kann ich nicht ausstehen. Ich spüre schon das Knurren in meiner Kehle, die aufgestellten Nackenhaare, die gefletschten Zähne. Jon ist ein richtiger Mistkerl.

      Aber eigentlich war ich gerade beim Winter, nicht? Der Eiswagen am Strand. Leute mit hochgeschlagenem Kragen. Belle, die mir gleich die Spitze ihrer Waffel geben wird. Was sie natürlich auch tut. Sie ist eine richtig Nette, das finden alle, nicht nur ich. Sie hilft im Haushalt, geht mit mir raus und schweinesittet für Winnie von nebenan, eine einsame Fernsehproduzentin, die sich aus einer Laune heraus ein Hängebauchschwein zugelegt hat, aber kaum zu Hause ist, um sich darum zu kümmern. Timothy begleitet uns oft auf den Spaziergängen und trottet an seiner roten, strassbesetzten Leine neben uns her. Anfangs sorgten wir für einiges Aufsehen, aber mittlerweile haben die Leute sich an uns gewöhnt – die junge Frau im grünen Regenmantel, die mit einem Wolfshund, einem Schwein und einem Flachmann mit selbst gemachtem Schlehenlikör ihre Runden dreht.

      Die Waffel selbst schmeckt nach gar nichts, aber das Vanilleeis ist lecker. Ich würde ja zu gerne mal ein ganzes Eis essen. Aber dazu kommt’s wohl nicht, es sei denn, ich schnappe einem kleinen Kind seins weg, und so ein Hund bin ich nicht. Wir gehen noch ein Stück, dann holt Belle den Tennisball am Stock heraus und wirft ihn. Um ehrlich zu sein, bin ich gar nicht so versessen darauf, hinter ihrem Ball herzulaufen, aber ich tue ihr den Gefallen und bringe ihn ihr zurück, damit sie ihn erneut werfen kann. So ist sie wenigstens beschäftigt und klaut nicht wieder irgendwelche Sachen. Ja, sie ist eine Ladendiebin. Ab und an lässt sie einen Eyeliner in ihrem Ärmel verschwinden oder versteckt eine Zeitschrift in der Zeitung, die sie kauft. Fragen Sie mich nicht, warum sie das tut – ich habe keine Ahnung. Am fehlenden Geld kann es nicht liegen. Aber das bleibt unter uns, ja?

      Ich habe gerade den Ball nach einem ziemlich misslungenen Wurf zurückgebracht, als ich etwas Ungewöhnliches rieche.

      Es ist eine Frau, die den Strand entlangläuft. Kurze Jacke, blonde Haare, großer blauer Kopfhörer. Mehr Informationen kann ich Ihnen dazu nicht geben, weil meine Sicht ziemlich eingeschränkt ist, was Farben angeht, aber sie riecht irgendwie anders, anders als alle Leute, an denen ich schon gerochen habe. Und ich habe schon an sehr vielen Leuten gerochen, auch an einigen, bei denen ich es besser gelassen hätte, mit lauter komischen Sachen unter den Fingernägeln. Die Hundebesitzer unter Ihnen wissen schon, dass wir riechen können, in welcher Stimmung Sie sind, aber niemandem scheint klar zu sein, wie detailliert wir das wahrnehmen. Einige von uns, die höher entwickelten Mitglieder unserer Spezies, wissen ganz genau, was Sie fühlen, mit allen Nuancen. Jede Empfindung dünstet aus Ihren Poren. Das umgibt Sie wie