sieht Ruth ihre Biegsamkeit vor der harten Geometrie der Stadt. Sydney nutzt eine gerade Linie als Sprungbrett, um durch die Luft zu kurven. Sie ist zwei zugleich, ihr Schatten tanzt über die Mauern. Es könnte der Schatten eines mädchenhaften Jungen oder eines jungenhaften Mädchens sein, doch das ist er nicht. Er gehört einer Frau, die auf die fünfzig zugeht. Einer Cartoonistin, die ihre Arbeitstage oben in ihrem gemeinsamen umgebauten Loft verbringt, während auf dem Sessel neben ihrem Schreibtisch ein Foxterrier namens Otto schnarcht. Einer Frau, die ab und an mit ihrem fünfunddreißig Jahre alten Skateboard in den Park geht, aber nur, wenn Ruth unterwegs ist, weil sie denkt, ihre Freundin wüsste nichts von diesen nostalgischen Ausflügen auf abgenudelten Rollen. Aber vor allem einer Frau, die sich weigert, an ihrem Geburtstag irgendetwas Normales zu tun.
Geburtstage sind ein Reizthema, eine Gefahrenzone. Den Tag zu feiern, an dem Sydney geboren wurde, ist definitiv nicht angesagt.
Warum?
Weil man damit die Tatsache feiern würde, dass Sydney noch am Leben ist, und das ist ein schwieriges Terrain für sie, eines, das sie lieber überspringen würde, als darin zu landen.
Das Dumme ist nur, diese Tatsache nicht zu feiern, ist für Ruth schwierig. Dadurch fühlt sie sich zugleich ausgeschlossen und in eine Vergangenheit gezogen, die nicht ihre ist.
Kann ich dir nicht wenigstens einen Kuchen backen?, hat sie in der Anfangszeit gefragt.
Mir wär’s lieber, wenn du das nicht tätest, hat Sydney gesagt. Ich finde, Geburtstage sind was für Kinder.
Wie deprimierend, hat Ruth gedacht.
Und außerdem, denkt sie jetzt, ist das Ganze absurd: Du machst ein Riesentheater darum, dass du kein Theater willst. Und selbst wenn wir die Tatsache nicht feiern, dass du widerstrebend und mit schlechtem Gewissen in ein weiteres Lebensjahr gekrochen bist, sorgst du mit deiner störrischen Weigerung, dich wie ein normaler Mensch zu benehmen, dafür, dass dieser Tag aus allen anderen herausragt.
Nicht mal ein Minikuchen mit einer einzigen Kerze?, hat Ruth gefragt.
Nicht mal das, hat Sydney gesagt.
Also gut, ausnahmsweise, hat Ruth gesagt. Aber das muss sich ändern. Ich mache das nicht bis in alle Ewigkeit mit, okay? Irgendwann gehen wir zwei an dem Tag schön essen, sonst kriege ich schlechte Laune.
Einverstanden, hat Sydney gesagt. Das war vor dreizehn Jahren.
Die Tatsachen des Lebens
Es ist der sechste Tag unserer Ferien. St. Ives zum fünften Mal hintereinander, also bedeutet Ferien für mich: Du suchst dir einen Ort aus und fährst jeden Sommer hin. Letztes Jahr haben wir in unserem Zelt geschlafen, und ich habe einen Mann auf einem Bett gefunden, der tatsächlich tot war. Dieses Jahr haben wir uns verbessert, wie Dad sich ausdrückt. Wir haben einen Wohnwagen gemietet. Als er ihn zum ersten Mal betreten hat, musste er sofort zehn Pence in die Fluchdose tun. Heilige Scheiße, hat er gesagt, hier kann ich mir ja im Stehen die Hose anziehen. Und was ist daran so toll?, hat Mum gefragt.
Heute gibt es ein besonderes Abendessen. Mum hat den Tisch in unserem Wohnwagen gedeckt. Eine weiche Baumwolltischdecke, blau-gelb kariert. Küchenrolle zu Dreiecken gefaltet. Gläser und Besteck und ein Krug Limonade.
Essen ist fertig, ruft sie von der Tür aus. Kommt, ihr drei, rein mit euch.
Auf dem Tisch steht eine Speisekarte, von Mum geschrieben.
Vorspeise: Cracker mit Käse und Pickles
Hauptgericht: Schellfisch in Soße mit Kartoffelkroketten, Erbsen,
Möhren und Bohnen
Nachspeise: Karamellcreme
Fisch-Fertiggerichte gibt es bei uns oft, aber nie drei Gänge, Küchenrollenservietten, eine Speisekarte und Limonade.
Dieses Essen, sagt Mum, während die Cracker in unserem Mund knuspern, ist der Beginn einer neuen Tradition. Wenn wir wieder zu Hause sind, werden wir uns jeden Freitagabend zusammen an den Tisch setzen und einander erzählen, was wir während der Woche erlebt haben. Ich glaube, das wird uns guttun.
Dads brauner Pulli ist schon übersät mit Cracker- und Cheddarkrümeln. Er isst immer so, als hätte er seit Tagen nichts mehr gekriegt, und dann landet jedes Mal etwas auf seinen Sachen oder auf dem Tisch. So wie bei Mum, wenn sie morgens ihre Frühstücksflocken isst: Dann hat sie meistens einen Milchtropfen in ihrem Kinngrübchen.
Ich habe eigentlich keine Lust, von meiner Woche zu erzählen. Ich würde mich viel lieber mit dem Essen vor den Fernseher setzen, wie wir es sonst auch machen. Jeder hat sein eigenes Tablett. Meins ist klasse, mit einem Jungen darauf, der mit einer Rakete durchs All fliegt. Ich habe auch eine Brotdose mit Hulk und Spider-Man darauf, das ist eine von meinen absoluten Lieblingssachen, und die will ich für immer behalten. Jason hat eine Star Wars-Brotdose und eine Trinkflasche mit Darth Vader, Luke Skywalker und R2-D2 darauf.
Sydney, wo bist du denn schon wieder mit deinen Gedanken?, fragt Mum. Wenn Leute sich unterhalten, sollte man wenigstens so tun, als würde man zuhören.
Ich hab ja zugehört.
Und was habe ich gerade gesagt?, fragt Dad.
Du hast gesagt, du hast eine sehr entspannte Woche gehabt, und wenn wir wieder zu Hause sind, willst du dein Fahrrad reparieren.
Sie merken einfach nicht, dass ich immer zuhöre. Außer wenn ich laufe und klettere. Dann gibt es nur mich und den Boden oder die Mauer oder irgendeine andere Oberfläche, und ich bin so stark, viel stärker als im normalen Leben. Es ist, als würde ich mich in ein Tier verwandeln, in einen Leoparden oder einen Affen oder so.
Mum erzählt als Letzte von ihrer Woche, und ich lerne eine Menge daraus. Wir müssen nämlich nicht die ganze Woche beschreiben, von Anfang bis Ende, sondern können auch nur eine Sache schildern, die passiert ist, einen kurzen Augenblick. Darauf bin ich gar nicht gekommen. Ich habe mir viel zu viel Mühe gegeben und versucht, mich genau zu erinnern, was wir an jedem Tag gemacht haben. Aber indem man einen Augenblick beschreibt, kann man alles beschreiben, wie Mum uns erklärt. Man versteht die ganze Geschichte auch, wenn man nur eine Reihe von Augenblicken betrachtet – man muss daraus keine Geschichte machen, weil sie die Geschichte sind und alles schon miteinander verbunden ist.
Und das erzählt uns Mum:
Ihr wisst ja, am Dienstag bin ich bummeln gegangen. Ich war in einer Galerie, einem Antiquariat und ein paar Wohltätigkeitsläden. Danach war ich erschöpft, deshalb bin ich in das Café neben der Bibliothek gegangen, da, wo wir am Montag gewesen sind, um einen Kaffee zu trinken und ein Stück Kuchen zu essen. Und da ist etwas Wichtiges passiert. Da war nämlich eine junge Frau.
Wer denn?, frage ich.
Ihren Namen habe ich nicht erfahren. Sie saß allein an einem Tisch und weinte. Ich überlegte, ob ich sie in Ruhe lassen sollte oder zu ihr gehen und fragen, ob ich etwas für sie tun kann. Manche Leute mögen das nämlich nicht, die wollen lieber für sich bleiben. Aber wenn man sich nicht um jemanden kümmert, der Hilfe braucht, kann einen das noch lange verfolgen, und man schämt sich sehr, das könnt ihr mir glauben.
Während wir ihr zuhören, essen alle weiter, außer mir. Ich sitze ganz gebannt da. Jason schiebt mit der Gabel seine Erbsen hin und her und lässt sie durch einen See aus gelber Soße schwimmen. Dad isst mit besorgter Miene seinen Fisch.
Warum kann einen das verfolgen?, frage ich.
Nun ja, vielleicht hat sie sich ganz allein auf der Welt gefühlt, ohne jemanden, der sich um sie kümmert. Vielleicht war sie kurz davor, sich das Leben zu nehmen.
Glaubst du, sie wollte sich das Leben nehmen?, frage ich.
Ila, sagt Dad. Das ist ganz schön düster. Und völlig überzogen. Wie kommst du nur auf so einen Gedanken? Wir weinen alle mal, aber das heißt doch nicht –
Das