ich das weiß? Weil Jason sich mal mit seinen neuen Turnschuhen ins Bett gelegt hat. Kurz davor war er im Garten, wo der Hund vom Nachbarn herumgelaufen ist, und da ist er mit seinen Pumas in Hundescheiße getreten – beziehungsweise in A-A, wie wir das während des ganzen dramatischen Zwischenfalls nennen sollten. Als Mum nach oben kam, um uns Gute Nacht zu sagen, gab es erst Geschnüffel und dann lautes Geschrei. Sie lief hinaus und kam mit Dad zurück, der Gummihandschuhe anhatte und sehr ernst dreinschaute. Jasons Laken, Bettwäsche und Decke wurden in drei Plastiksäcke gepackt und in die Mülltonne gestopft, weil Dad meinte, selbst mit Desinfektionsmittel würden sie nicht wieder richtig sauber. Die Sachen waren noch ziemlich neu, deshalb hat Mum geweint und Gin Tonic getrunken und Stevie Wonder gehört (Mum liebt Stevie Wonder). Am nächsten Tag kam eine Frau in einem weißen Overall, um die Teppiche sauber zu machen. Sie hieß Lulu. Ist das Ihr richtiger Name?, fragte Mum. Ist Ila Ihr richtiger Name?, fragte Lulu zurück. Ja, schon, sagte Mum. Lulus Overall war pieksauber, wie unsere Tischdecke. Darf ich mal anfassen?, fragte Mum. Wenn’s Sie glücklich macht, sagte Lulu. Um die Taille trug sie den breitesten Gürtel, den ich je gesehen hatte; die goldene Schnalle war so groß wie mein Kopf. Ich mache die Scheiße von anderen Leuten weg, sagte sie. In diesem Haus sagen wir dazu A-A, sagte Mum. Nennen Sie es, wie Sie wollen, es stinkt trotzdem, sagte Lulu.
Ich bleibe stehen und sehe den Mann an, der da auf dem Bett liegt, sodass Mum auch stehen bleibt.
Es ist unhöflich, jemanden anzustarren, sagt sie.
Aber dann sieht sie, was ich sehe.
Der Mann bewegt sich nicht.
Wir stehen nebeneinander am Fußende eines Doppelbetts und schauen auf seinen offenen Mund und die offenen Augen. Ich strecke die Hand aus und berühre seine schwarzen Lederschuhe, die blitzblank poliert sind.
Ich mag seine roten Socken, sage ich. So welche möchte ich auch. Was macht er da?
Du liebe Güte, sagt Mum. Sie weicht zurück, als hätte sie sich erschreckt, nimmt meine Hand und zieht mich weg zur Kasse, wo sie flüstert: Da liegt ein Mann im Bett, der ist womöglich tot. Und ich denke, das klingt wie der Anfang von einem der Gedichte, die Dad mir abends vorliest.
Da liegt ein Mann im Bett, der ist womöglich tot.
Was mag passiert sein? Hat er große Not?
Hol doch jemand den Herrn Doktor
Hier hilft kein Spielzeughelikopter.
Dass ich den toten Mann gesehen habe, macht mir nichts aus, aber Mum denkt, es wäre so, und das ist prima, denn um mich zu trösten, kauft sie mir statt des versprochenen Cowboys einen Playmobil-Krankenwagen. Ich kann es gar nicht glauben. So was kriegt man sonst nur zu Weihnachten, nicht an einem ganz normalen Tag.
Na, sagt Mum, als wir ins Auto steigen, das war ja vielleicht ein Morgen. Alles in Ordnung, Sydney?
Mir geht’s gut, sage ich und schnuppere an meinem Krankenwagen.
Mum klappt die Handtasche auf, nimmt zwei Schokokekse heraus, die sie in ein Papiertaschentuch gewickelt hat, und gibt mir einen davon.
Sollen wir das Radio anmachen?, fragt sie. Es tut uns vielleicht gut, ein bisschen zu singen.
Warum tut das gut?
Weil es befreit.
Während sie uns zum Zeltplatz in St. Ives zurückfährt, singen wir zu »Matchstalk Men and Matchstalk Cats and Dogs«, »Rivers of Babylon« und »Take a Chance on Me«.
Woher kennst du die ganzen Texte?, frage ich.
Liedtexte kann ich mir leicht merken, sagt Mum.
Wir parken neben unserem Zelt und gehen direkt zum Strand, um Dad und Jason zu suchen.
Die beiden sitzen auf einer Decke, die Blicke gesenkt, beschäftigt. Jason nimmt ein kaputtes Radio auseinander, das er extra für diese Reise aufgehoben hat.
Was ist das?, fragt er und blickt auf.
Ein Geschenk, sage ich und gebe ihm den Satz Mini-Schraubenzieher, den Mum bei Flannery’s für ihn gekauft hat.
Oh, super, sagt er, denn Jason liebt Werkzeug genauso wie ich Stifte. Übrigens hat mein Bruder eine echt seltsame Angewohnheit: Manchmal vergräbt er seine Lieblingssachen im Garten. Ja, wie ein Hund seinen Knochen. Nur dass Jason seine Sachen vorher in Tupperdosen packt, damit sie nicht schmutzig werden. Das macht er schon seit Jahren. Angefangen hat es mit seinem Action Man und Lego. Mum und Dad wissen nichts davon. Wenn wir wieder zu Hause sind, wird Mum fragen, wo die Schraubenzieher sind. An einem ganz sicheren Ort, wird Jason sagen, während ich meine Buchstabennudeln esse und den Mund halte. Jeder hat ein Recht auf ein paar Geheimnisse, selbst mein seltsamer Bruder.
Dad lackiert seine neueste Kreation: eine Holzkiste mit lauter offenen Fächern, und in jedem davon steckt ein Haken.
Was ist das denn?, frage ich.
Ach, nichts, sagt er. Habt ihr was Schönes gekauft?
Ich erzähle ihm von dem Mann auf dem Bett, der womöglich tot ist, und zeige ihm meinen Krankenwagen. Er fragt, ob ich was Süßes will, Zucker tut bei einem Schock immer gut. Ja, bitte, sage ich. Er greift in die Kühltasche und holt eine Dose mit pudrigen Bonbons heraus.
Danke. Warum tust du die in die Kühlbox?, frage ich.
Warum nicht?, sagt er.
Was hast du denn noch da drin?, fragt Mum.
Hm, sagt er und kramt ein bisschen.
Würstchen im Schlafrock, Eier-Sandwiches, Käse-Zwiebel-Chips, Weingummi, Schokoküsse und eine Flasche Orangenlimo.
Nicht übel, sagt Mum.
Wir machen es uns bequem, setzen uns nebeneinander, essen unser Picknick und schauen aufs Meer.
Ganz schön frisch hier, nicht?, sagt Jason.
Reine Einstellungssache, sagt Mum.
Ich bin zehn, als ich zum zweiten Mal einen toten Menschen sehe.
Da ist nichts, was befreit.
Da wird nicht zur Radiomusik gesungen.
Du könntest mich hart und glatt und schön machen
Ich erinnere mich gut an dich, Sydney Smith. Du hast meine Schuhspitze gedrückt. Ich liebte diese italienischen Schnürschuhe und habe sie dauernd poliert, bis man sich darin spiegeln konnte.
Bei deinem Reim musste ich schmunzeln. Aber um ehrlich zu sein, hätte mir weder ein Spielzeughelikopter noch der Herr Doktor geholfen, weil ich tatsächlich tot war, mausetot. Den Löffel abgegeben und ins Gras gebissen, wegen so einem blöden Schlaganfall. Und was für ein Timing, Sydney. Ich war auf der Suche nach einem Bett für meine Freundin und mich, eine Woche später wollten wir heiraten.
Ich hatte schon alle möglichen Betten ausprobiert, bevor ich zu Flannery’s kam, aber bei dem wusste ich sofort, das ist es, noch bevor ich mich darauf ausgestreckt hatte. Noch nie hatte ich mich so getragen gefühlt. Ich sank hinein, ich schwebte, ich war glücklich.
Ich bin eine Leseratte, Sydney. Ich liebe es, im Bett zu lesen. Deshalb wollte ich wissen, wie es wäre, in diesem Bett zu lesen. Ich schüttelte die Kissen auf, lehnte mich dagegen und stellte mir vor, ich hätte meinen Schlafanzug an und ein Buch in der Hand und würde zu Maria sagen: Der Satz hier ist wunderbar, soll ich ihn dir vorlesen?
Und während ich mir das vorstellte, ist es passiert.
Irgendwie bin ich einfach gestorben.
Verdammte Scheiße, Sydney. Was soll man da anderes sagen als verdammte Scheiße?
Und dann trat ein Mädchen ans Fußende des Betts und drückte meine Zehen. Das konnte ich übrigens spüren. Noch hatte das Leben mich nicht ganz verlassen. Das dauert ein paar Tage. Wenn die Lebenden bloß