Gisela Luise Till

Die Königin des Lichts


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schluchzte, schluckte die aufkommenden Tränen runter und jammerte: „Mama, bin ich verrückt?“

      Maria ließ bestürzt den Kochlöffel fallen. „Du meine Güte, Kind! Wie kommst du denn darauf?“

      Luzie zuckte die Schultern und verschluckte die Worte, die ihr auf der Zunge lagen. Sollte sie sagen, dass die Kinder sie hänselten? Damit würde sie ihre Mutter nur ängstigen und das wollte sie auf keinen Fall. Sie zog ihr Taschentuch aus der Hosentasche, schnäuzte kräftig ihre Nase und suchte nach einer Antwort. Während sie die Nase umständlich abwischte, ging die Tür auf und Max humpelte herein.

      Er sah fürchterlich aus: Die Haare standen ihm zu Berge, seine Hose war zerrissen, der Ärmel seiner Jacke hatte ein Loch und sein Arm blutete. Mit schmerzverzerrtem Gesicht presste er den Arm gegen seinen Körper und hinkte zur Küchenbank.

      Maria schrie entsetzt auf: „Oh Gott, Max! Wie siehst du aus? Was ist passiert?“

      „Ich bin gefallen, die Bretter sind auf mich gestürzt. Ich glaub, mein Arm ist gebrochen. Es tut so weh.“

      Maria betrachtete den Arm. Er zeigte einige Hautabschürfungen und blutige Schrammen, schien aber nicht gebrochen zu sein. Sie eilte zum Wasserhahn, ließ kaltes Wasser über ein Tuch laufen und legte Max einen Verband an. „Hab keine Angst“, tröstete sie. „Ich muss den Arm kühlen, damit er nicht anschwillt.“

      Während sie Max behandelte, ließ Luzie beschämt den Kopf hängen und Marie hegte den Verdacht, dass ihr Kind etwas angestellt hatte. Ihr Gefühl gab ihr recht, Luzie fühlte sich schuldig. Max war verletzt. Das hatte sie nie und nimmer gewollt! Im Gegenteil. Sie verabscheute es, wenn sie mit Max stritt, hinterher fühlte sie sich immer so schlecht, als hätte sie eine große Schuld auf sich geladen. Max war ihr Freund, er war stets lieb zu ihr, und egal, was sie auch anstellte, er verzieh ihr alles. Ihm wollte sie auf keinen Fall wehtun.

      Luzie hatte insgeheim selbst auf etwas Trost gehofft, aber nun brauchte Max ihr Mitgefühl, er hatte Schmerzen. Sie setzte sich zu ihm, streichelte seinen Arm und bat: „Verzeih mir, das hab ich nicht gewollt. Tut es sehr weh?“

      Er zuckte die Schultern. „Es ist halb so schlimm. Leg deine Hand drauf, dann ist es gleich vorbei.“

      Max wusste, dass von Luzies Händen eine heilende Wirkung ausging. Immer wenn er sich verletzte und Luzie mit der Hand über die Stelle rieb, strömte eine Wärme in seinen Körper und der Schmerz verging. Deshalb war er Luzie auch nie lange böse, sie machte alles wieder gut. Es war sonderbar, immer wenn Luzie sich aufregte, passierten die merkwürdigsten Sachen. Das hatte etwas mit ihrer Kraft zu tun. Wenn sie wütend war, bekam sie Bärenkräfte und dann traute sich außer ihm kein Kind mehr in ihre Nähe. Einmal hatte sie so fest mit der Faust auf den Tisch geschlagen, dass er in zwei Teile zerbrochen war. Das konnte sonst niemand. Im ganzen Waldaland gab es kein Kind, das so viel Kraft hatte!

      Luzie hatte etwas Geheimnisvolles, Unerklärliches; es war, als wohnten zwei Seelen in ihrer Brust.

      Max saß grübelnd auf der Bank, als Maria ihm den Verband anlegte und sorgenvoll seufzte: „Ach, Luzie, wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du die Kinder nicht schubsen darfst, du weißt doch, wie stark du bist. Du musst deine Kräfte im Zaum halten. Wenn du alle Kinder verletzt, will niemand mehr mit dir spielen. Sei froh, dass du Max zum Freund hast. Alle anderen kommen schon nicht mehr. Die Kinder haben Angst vor dir.“

      Maria war in tiefer Sorge und hatte ständig Angst, dass Luzie etwas anstellen könnte. Sie liebte ihr Kind über alles und wollte ihren Sonnenstrahl so lange wie möglich beschützen. Doch die Zeit rückte immer näher, da sie Luzie in ihr Geheimnis einweihen musste. Sie konnte es nicht länger verschweigen, allmählich wurde es zu gefährlich. Luzie musste wissen, was mit ihr los war. Obwohl Maria wusste, dass es höchste Zeit war, ihrem Kind das Geheimnis zu verraten, schob sie es immer wieder vor sich her. Luzie sollte so lange wie möglich ein sorgloses Kind bleiben und wie alle anderen aufwachsen. Deshalb hatte sie die Wahrheit über Luzie und das Licht noch nicht über ihre Lippen gebracht. Doch lange konnte sie es nicht mehr verheimlichen. Je älter Luzie wurde, umso gefährlicher wurde es. Ihre Kräfte nahmen zu! Vor allem musste sie Luzie beibringen, ihr heißes Temperament zu zügeln, ihre Wut zu beherrschen und sich nichts unkontrolliert zu wünschen, was dann vielleicht in Erfüllung gehen und ungeahnte Folgen haben würde.

      Maria lief ein kalter Schauer über den Rücken. Wie oft hatte sie schon mit diesem inneren Zwiespalt gehadert und nun kämpfte sie schon wieder den gleichen Kampf. Sie wollte nicht schuld sein, wenn etwas Schreckliches passierte, nur weil sie den Mut nicht aufbrachte, um ihrem Kind die Wahrheit zu sagen.

      Am Abend wartete Maria mit dem Abendessen auf Luzies Vater Falko. Sie erblickte ihn durchs Fenster und öffnete die Tür. Das Erste, was Falko sah, war Max’ Verband. Falko hätte sich gerne hingesetzt und etwas getrunken, aber Max sah so ramponiert aus, dass er gleich zu ihm ging. „Was ist passiert? Hast du dich verletzt?“

      Max sah Hilfe suchend zu Luzie und stammelte: „Ja ... nein ... ich weiß nicht!“

      Luzie wurde ganz verlegen. „Das ist meine Schuld. Das hab ich gemacht.“

      „Duuu?“, wunderte sich Falko. „Wie ist das passiert? Was hast du angestellt?“

      „Wir haben Verstecken gespielt, Max hat mich sofort gefunden, da hab ich ihn weggeschubst und die Bretter sind auf ihn gefallen.“

      „Willst du damit sagen, dass ihr im Schuppen gespielt habt?“

      Luzie ließ den Kopf hängen, ihre Lippen wurden ganz schmal und dicke Tränen kullerten über ihre Wangen. Falko bemerkte, dass ihre Schultern leicht zitterten, er konnte kaum hinsehen und streichelte tröstend ihre Hand. „Aber, aber, mein Sonnenstrahl. Hör auf zu weinen – so schlimm wird das doch nicht gewesen sein.“

      Luzie trocknete ihre Tränen. Ihr Vater nannte sie Sonnenstrahl, das war ein gutes Zeichen. Sie kletterte auf seinen Schoß, schlang die Arme um seinen Hals und erzählte, was geschehen war.

      Falko nahm ihr das Versprechen ab, den Schuppen mit den gefährlichen Gerätschaften zu meiden, und seufzte: „Geh schlafen, Sonnenstrahl, es ist schon spät, ich begleite Max nach Hause, ich will noch mit seinem Vater reden.“

      Luzie verabredete sich mit Max für den nächsten Tag, ging in ihr Zimmer und zog ihre Kleider aus. In der Abenddämmerung leuchtete ihre nackte Brust besonders hell und ihr ganzer Körper war umgeben von einem goldenen Schein. Sie betrachtete ihr Spiegelbild und fragte sich, warum sie so anders war. Allein ihr blondes Haar sonderte sie von allen anderen ab. Niemand im Waldaland hatte solche blonden Haare. Alle waren schwarz- oder braunhaarig. Doch das konnte sie verstehen; ihre Oma wohnte in einem fernen Land und war auch blond. Befremdlicher waren ihre Augen, mit denen stimmte etwas nicht. Sie waren braun, von einem blauen Rand umgeben und wechselten wie feurige Diamanten die Farbe.

      Es war sonderbar, manchmal strahlten ihre Augen wie die Sonne und schickten goldene Strahlen zur Erde. Deshalb nannte Papa sie auch Sonnenstrahl. Doch etwas passte nicht, das fühlte sie genau. Wenn sie nur wüsste, was. Es war alles so verworren. Genauso verworren war das Theater, das ihre Mama immer machte, wenn sie sich etwas wünschte. Nie durfte sie sich etwas wünschen.

      Stattdessen sollte sie sagen: „Es wäre schön, wenn ich eine Katze hätte. Es wäre schön, wenn ich einen Hund hätte. Es wäre schön ...“

      Das war doch blöd! Sie wünschte sich schließlich einen Hund! Und wenn sie gerne einen Hund hätte, warum sollte sie sich dann keinen wünschen?

      Luzie fühlte sich plötzlich so allein und der Wunsch nach einem Hund wurde immer größer. Sie sah das Tier deutlich vor sich. In ihrer Fantasie hielt sie den Hund an der Leine und spazierte mit ihm im Zimmer umher. Sie sah sich schon mit Max und dem Hund im Wald herumtollen. Diese Vorstellung war so schön, dass ihre Sehnsucht nach einem Hund von Minute zu Minute drängender wurde. Sie konnte an nichts anderes mehr denken und das Verlangen steigerte sich noch.

      Plötzlich kniff sie die Augen zu, und ehe sie wusste, was sie tat, flüsterte sie aus tiefster Seele: „Ich wünsche