aufhören wollte. Genau wie an den drei Tagen zuvor riss sie Luzie einige Haarsträhnen aus und murmelte geheimnisvolle Sprüche. Luzie hielt es nicht länger aus, sie nahm ihr die Bürste aus der Hand, zog sie dreimal durch ihr Haar, sprang auf und sauste mit Tino zu Max.
Es dauerte nicht lange, da waren die drei auf dem Weg zu ihrem Lieblingsplatz. Als sie zum Perlbach kamen, machten sie bei den Trauerweiden halt. Max drehte einige Äste der Weide wie ein Seil zusammen und ließ Tino darüber springen. Die Übung war viel zu leicht für Tino, er brauchte etwas Anspruchsvolleres. Max verknotete die Zweige der Weide zu einem Ring und hielt ihn Tino vor die Nase.
Luzie verbeugte sich tief und rief: „Manege frei für den großen Hundedompteur. Jetzt kommt Max, der große Tierbändiger.“
Max dirigierte Tino mit einem Stock in die richtige Stellung, zählte bis drei und ließ Tino durch den Reifen springen. Danach warfen sie Tino kleine Stöcke zu, die er alle zurück brachte. Sie waren so in ihr Spiel vertieft, dass sie blindlings immer tiefer in den Wald liefen.
Die Zeit verflog und niemand merkte, dass die Mittagsstunde schon lange vorüber war. Erst als der Hunger sich meldete und ihre Mägen knurrten, unterbrachen sie ihr Spiel. Sie durchwühlten ihre Taschen, aber keiner hatte etwas Essbares dabei. In der Hoffnung, im Wald etwas zu finden, schauten sie sich die Umgebung etwas genauer an. Der Wald hatte sich verändert. Hier war tiefster Urwald und der Weg, auf dem sie sich befanden, führte direkt zur hohen Gracht.
Die beiden steckten die Köpfe zusammen und trauten sich kaum zu atmen. Sie wussten, dass sie hier nicht spielen durften; die hohe Gracht war für Kinder verboten. Um den Berg rankten sich geheimnisvolle Geschichten. Er war verhext und es war strengstens untersagt, sich allein in seiner Umgebung aufzuhalten.
Die Dorfbewohner erzählten, dass einst ein Erdrutsch ein ganzes Zwergenvolk ausgelöscht hatte und hier ihre Seelen umhergeisterten. Andere erzählten von schwarzhaarigen Gestalten, die Menschen und Tiere fraßen. Obwohl niemand solche Ungeheuer je gesehen hatte, machten alle im Waldaland einen großen Bogen um den Berg. Umso unheimlicher war es, dass sie nun, mit Hunger im Bauch, allein im schwarzen Wald standen.
Der Wald war schaurig und still. Kein Vogel zwitscherte in den Zweigen und kein Tier raschelte im Gebüsch. Die Stille verströmte ein beklemmendes Gefühl und beide spürten, dass sie diesen unheimlichen Ort schleunigst verlassen mussten.
Max nahm Luzies Hand und drehte sich wortlos um. Sie waren kaum ein paar Schritte gegangen, da kroch Tino ein ekliger Geruch in die Nase. Er knurrte und fletschte die Zähne. Plötzlich schoss er davon, rannte zu einer Reihe Tannen und kläffte sie an. Luzie pfiff ihn zurück. Doch Tino reagierte nicht und bellte Alarm.
Luzie ging in die Knie. „Tino, was hast du? Komm her!“
Tino bellte weiter. Max blickte sich um, er konnte nichts Verdächtiges sehen und zuckte ratlos die Schultern. Tino konnte sich kaum beruhigen und bellte immer wieder Alarm. Die Sache wurde unheimlich. Max schlich zu ihm, packte sein Halsband und versuchte, ihn wegzuziehen. Der Hund war keinen Zentimeter fortzubewegen; er bellte und fletschte die Zähne.
Max hielt ihm die Schnauze zu. „Psst! Ich weiß, dass du uns warnen willst. Sei still, ich erkunde mal die Gegend.“ Max kroch durchs Gebüsch und entdeckte in einer Senke eine heruntergekommene Hütte. Die hatte er noch nie gesehen. Er winkte Luzie heran und murmelte: „Guck mal, da ist eine Hütte, kennst du die?“
Luzie schüttelte den Kopf. „Nee, die hab ich noch nie gesehen. Vielleicht gibt es da was zu essen!“
Die Hütte sah verfallen aus und Max bezweifelte, hier überhaupt etwas zu finden. Trotzdem schlich er näher heran. Er duckte sich unter das Fenster und spähte ins Innere. Nichts war zu sehen: Die kleinen Scheiben waren mit so viel Grünspan überzogen, dass es unmöglich war, etwas zu erkennen. Er lauschte auf irgendein Geräusch. Als sich nichts regte, klopfte er leise an das Fenster. „Ist da jemand?“ Niemand antwortete.
Max schlich um die Hütte herum. Er überprüfte die Rückseite, blieb an der Vorderseite stehen, öffnete die schiefe Tür und ging hinein. Luzie folgte ihm mit Tino. Sie stand dicht hinter Max und spähte über seine Schulter in die Stube.
Als der Lichtstrahl durch die geöffnete Tür drang, erkannten sie eine düstere Kammer, in der sich ein Ofen und ein paar Regale befanden. Der Boden war übersät mit Abfall und auf den Möbeln, die aus einem Bett, Tisch und zwei Stühlen bestanden, klebten sauer stinkende Essensreste. Ein beißender Gestank strömte aus dem düsteren Raum und brannte in ihren Nasen. Max hielt die Luft an und wollte raus. Er hatte schon einen Fuß draußen, als plötzlich etwas auf ihn zuschlurfte.
In der dunkelsten Ecke der Hütte bewegte sich ein schwarzer Schatten und eine Stimme krächzte: „He, ihr Saubande! Was wollt ihr hier?“
Max machte einen Satz rückwärts, stolperte über Tino und fiel auf den Boden. Luzie riss ihn hoch und rannte mit ihm davon. Sie waren grade mal ein paar Meter gelaufen, da vermissten sie Tino. Sie blieben stehen und schauten sich um. Tino war noch bei der Hütte und kläffte eine alte Frau und einen schmuddeligen Jungen an, die daraus hervortraten. Die Alte, die Tino in einem fort ankläffte, war eine bucklige Zwergin und sah einer Hexe zum Verwechseln ähnlich. Lange graue Haare fielen auf ihre Schulter und im Gesicht prangte eine spitze Nase. Ihre Haut war bleich und faltig und die runzeligen Lippen waren ein Anzeichen für eine Reihe fehlender Zähne. Aus ihrem geöffneten Mund schauten ein paar wacklige, faule Eckzähne heraus, die ebenfalls einen stinkenden Geruch verbreiteten.
Der Junge sah nicht besser aus. Völlig verdreckt verströmte auch er einen muffigen Gestank. Sein Fuß war verkrüppelt und seine Oberlippe gespalten. Sabber floss aus seinem Mund und aus seiner Kehle drangen krächzende Laute. Der Junge duckte sich hinter die Alte, schielte hinter ihrem Rücken hervor auf den Hund und warf kleine Steine nach ihm. Tino kläffte, als wollte er mit seinem Gebell die beiden verscheuchen.
Luzie spürte die Gefahr und schrie: „Tino! Hierher!“
Die Alte grinste honigsüß, schnippte mit ihren langen Fingern und säuselte: „Komm, mein Hündchen, komm zu mir, ich hab Leckerchen für dich.“
Als Luzie sah, wie heimtückisch die Alte sich an den Hund heranmachte, kam ihr ein schrecklicher Gedanke. Ihr fielen die furchtbaren Geschichten über diese Gegend ein und sie befürchtete, dass die zwei die Schreckgespenster waren, die sich an Tiere und Kinder heranmachten. Tino war in Gefahr.
Luzie zwinkerte Max zu und murmelte mit unbeweglichen Lippen: „Bleib hier und halte mir den Weg frei. Ich hol Tino. Wenn ich ihn habe, läufst du los!“ Zwei Sekunden später flitzte sie zu Tino und wollte ihn einfangen.
Doch die Alte versperrte ihr den Weg und keifte: „Verschwinde. Der Hund bleibt hier!“
Die schrille Stimme klang wie eine quietschende Eisentür. Luzie zuckte zusammen und rief: „Tino! Hierher!“
Tino kläffte weiter. Luzie wurde langsam böse und brüllte lauter. Doch alles Rufen und Pfeifen war vergebens. Es war wie verhext: So hatte Tino sich noch nie verhalten. Luzie überlegte, wie sie ihn weglocken konnte, und tat so, als würde sie fortgehen. Plötzlich lief der Junge mit einer Geschwindigkeit, die man ihm nie zugetraut hätte, zu Tino, schnappte ihn und rannte mit ihm davon.
Die Alte klatschte in die Hände und lachte. „Satan, mein Junge, komm zu mir! Komm, bring das Hündchen zu deiner Mami!“
Luzie lief ein kalter Schauer über den Rücken. Sie blickte zu Max und wollte etwas sagen, doch sie brachte keinen Ton heraus. Wie versteinert stand sie da und zeigte auf den Jungen. Der war der Sohn der Hexe und sie nannte ihn Satan ... wie den Teufel. Ihre Lippen formten stumm das Wort „Lauf“.
Max verstand, was sie wollte, und rannte hinter dem Jungen her. Er holte ihn ein, bekam seinen Ärmel zu fassen und hielt ihn fest. Doch Satan war schnell. Er riss sich los, boxte Max in den Bauch und entkam. Max krümmte sich für ein paar Sekunden zusammen. Als der Schmerz verging, sah er Luzie mit blitzenden Augen hinter Satan her rennen und er folgte den beiden eilig.
Satan blickte Luzie in die Augen und blieb