von Luzies Geheimnis. Die beiden Familien verband eine enge Freundschaft und so war es für Max und Luzie normal, dass sie bei jedem zu Hause waren. Falko saß mit Johann bei einem Glas Wein und sie diskutierten Max’ Unfall. Johanns Rat war ihm wichtig. Als Schulleiter wusste er, mit den Sorgen und Nöten der Kinder umzugehen, und hatte für jeden ein offenes Ohr.
Als Johann hörte, dass Luzie Max mit einem Handstreich umgehauen hatte, zog er nachdenklich die Stirn kraus. Er schenkte seinem Freund Rotwein nach und seufzte: „Luzies Kräfte nehmen zu. Sobald sie wütend wird, brechen sie durch. Mit ihren elf Jahren kann sie die Kraft nicht kontrollieren und niemand weiß, wie es endet.“
Falko nickte sorgenvoll und Johann mahnte: „Du musst Luzie aufklären, heute noch. Du siehst ja, was passiert. Warte nicht länger, sonst ist es eines Tages zu spät und es geschehen Dinge, die du nicht mehr in Ordnung bringen kannst.“
Falko zuckte hilflos die Schultern. „Du hast gut reden, aber wie soll ich Maria dazu bringen? Sie will davon nichts wissen. Luzie soll, solange es geht, wie alle anderen Kinder aufwachsen.“
Johann schüttelte verärgert den Kopf, er verstand seinen Freund nicht mehr. Er war doch sonst nicht so zaghaft. Wie lange wollte er denn noch warten? Langsam verlor er die Geduld und murrte: „Indem du Luzie endlich die Wahrheit sagst. Geh nach Hause, Falko, mach es jetzt gleich. Geh, bevor noch mehr passiert!“
Falko fühlte Übelkeit in sich aufsteigen. Er streckte seine Glieder und stand auf. „Du hast recht, Johann, ich muss es tun. Ich mach mich sofort auf den Weg. Danke für deinen Rat.“
Auf dem Heimweg durchdachte Falko nochmals sämtliche Möglichkeiten. Dabei kam er zu dem Entschluss, Maria sofort anzusprechen und von der Notwendigkeit, Luzie aufzuklären, zu überzeugen. Er hatte sich fest vorgenommen, keinen Aufschub mehr zu dulden, und ging festen Schrittes nach Hause.
Während er seine Jacke an den Garderobenhaken hängte, rief er nach Maria. Er fand sie im Wohnzimmer und kam gleich zur Sache. „Wir müssen reden. Du kannst Luzie nicht länger im Ungewissen lassen. Wir müssen ihr jetzt sagen, was mit ihr los ist.“
Maria schaute Falko mit großen Augen an. Vor dieser Aussprache hatte sie sich schon lange gefürchtet. Sie wusste, dass er recht hatte, trotzdem versuchte sie, ihn wieder davon zu überzeugen, noch zu warten.
„Ach, Falko, Luzie ist doch noch so klein. Ich möchte, dass sie so lange wie möglich ein unbekümmertes Kind bleibt. Wenn sie lernt, ihre Kräfte zu kontrollieren, dann ist doch alles gut.“
„Und wie willst du das machen? Du kannst ihre Gedanken nicht kontrollieren. Wie willst du ihr erklären, dass sie Zauberkräfte hat und wenn sie sich etwas wünscht, alles in Erfüllung geht?“
„Indem ich ihr sage, dass sie keinen Wunsch aussprechen darf. Sie muss ihre Wünsche anders formulieren. Sie muss fragen: Kann ich ein Pferd bekommen? Oder: Es wäre schön, wenn ich ein Pferd bekommen würde. Dann ist doch alles gut.“
Falko raufte sich die Haare. „Oh Gott, Maria! Das ist gefährlich! Irgendwann passiert noch was, das wir nicht mehr in Ordnung bringen können. Hör auf mich, sag es ihr!“
„Du hast gut reden! Wie soll ich einem elfjährigen Mädchen erklären, dass es unsterblich ist? Und überhaupt, niemand weiß, ob es ein Fluch oder ein Segen ist. Stell dir vor, sie weiß, dass sie unsterblich ist, läuft blindlings in jede Gefahr und verletzt sich ständig! Oder jemand nimmt sie gefangen, lässt sie hungern und dursten und sie muss das immer und ewig ertragen. Das wäre doch die Hölle auf Erden!“
„Um Himmels willen, Maria, wie kommst du auf solche Schauergeschichten? Das ist ja furchtbar.“
„Siehst du, Falko? Jetzt überleg mal! Wenn du ein Kind wärst, könntest du mit so einem Wissen glücklich und sorglos leben?“
„Nie und nimmer! Du hast recht, sie darf es nie erfahren!“ Falko war ganz schwindelig geworden. Er sah seinen kleinen Sonnenstrahl schon in den Klauen eines Berggeists. Seine Angst war nicht unbegründet, wusste er doch, dass bei Opa im Stall ein Käfig mit einer Krähe im Gebälk hing, die ein verzauberter Berggeist war. Sie hatten ihn seinerzeit gefangen und im Land der Eltern, wo er keinen Schaden anrichten konnte, in Verwahrung gegeben.
Falko sank kraftlos in den Sessel und sein ganzer Mut war dahin. Maria versuchte, ihn auf andere Gedanken zu bringen. Sie stellte sich hinter ihn, legte die Arme um seinen Hals und flüsterte in sein Ohr. „Es gibt etwas, das wir tun können, Falko. Wie du weißt, ärgert Luzie sich über den Spitznamen Blinki. Wie wäre es, wenn wir ihr ein Hemdchen anfertigen, das leicht wie eine Feder, dünn wie Papier und undurchdringlich wie Gold ist? Sie könnte das Hemd unter ihren Kleidern tragen und damit das Licht unsichtbar machen. Wenn niemand mehr das Licht sieht, ärgern die Kinder sie auch nicht mehr.“
„Hm, das wäre schön. Woraus willst du das machen?“
„Aus ihren Haaren. Sie sind wie goldene Fäden, dünn und stark wie Seide, damit müsste es gehen. Die Zauberkraft, die in ihrem Körper wohnt, findet sich auch in ihrem Haar.“
„Das könnte klappen, Maria. Einverstanden, versuch es.“
Während die beiden darüber nachdachten, wie sie das Hemdchen anfertigen wollten, polterte in Luzies Schlafzimmer etwas auf den Boden. Falko schnellte aus seinem Sessel empor, spurtete die Treppe hoch, stürmte in Luzies Zimmer und stieß einen grellen Schrei aus.
„Mariaaa! Wo kommt das Tier her?“ Er konnte nicht glauben, was er sah. Auf dem Boden lag Luzie und in ihrem Bett machte sich ein weißer Hund breit.
Maria hastete die Treppe hoch, starrte auf den Hund und stammelte: „K...k...keine Ahnung, der war eben noch nicht da!“
„Aber du musst doch wissen, wo der herkommt, du warst doch die ganze Zeit hier! Das ist eine Katastrophe. Wenn du nicht weißt, wo der herkommt, ist das der Anfang vom Ende.“
„Beruhige dich, Falko, das ist doch nur ein Hund.“
„Beruhigen? Was redest du für einen Unsinn? Wenn niemand weiß, wo der Hund herkommt, hat das etwas zu bedeuten!“
Maria war den Tränen nahe. So aufgebracht hatte sie Falko noch nie gesehen. Er schien ernsthaft in Sorge zu sein und hatte für ihre beruhigenden Worte kein Ohr. Während sie noch nach einer Erklärung suchte, erwachte Luzie. Verschlafen rieb sie sich die Augen und blickte erstaunt auf ihre Eltern, die mit roten Köpfen in ihrem Zimmer standen.
Falko hob sie auf und ließ sie unsanft aufs Bett plumpsen. „Was ist das für ein Hund? Wo kommt der her?“
Tino huschte unter das Bett und Luzie hätte am liebsten gesagt: „Ich sehe keinen Hund“, doch sie merkte, dass der Vater böse war und sie mit dieser Lüge alles noch schlimmer machen würde. Deshalb antwortete sie wahrheitsgemäß: „Den hab ich mir gewünscht und dann war er plötzlich da.“
„W...a...a...as?! Den hast du dir gewünscht?“
Luzie nickte.
Falko stockte der Atem. Er bekam keine Luft mehr. Der Boden schwankte unter seinen Füßen und er hatte das Gefühl, jemand schnürte ihm die Kehle zu. Nun war das passiert, was er vermeiden wollte und wovor er immer gewarnt hatte. Er warf Maria einen vorwurfsvollen Blick zu, öffnete seinen Hemdkragen und sank ächzend auf das Bett.
Als er sich etwas beruhigt hatte, klopfte er auf die Bettkante. „Luzie, setz dich zu mir. Mama und ich müssen mit dir reden. Wir müssen dir etwas sagen, was wir schon längst hätten tun sollen.“
Maria setzte sich neben Luzie und kraulte Tino, der sich zwischen sie gedrängt hatte. Falko wusste nicht, wie er anfangen sollte, und es entstand eine beklemmende Stille.
Schließlich raffte Maria ihren Mut zusammen und sagte leise: „Luzie, du hast etwas gemacht, was du nie mehr tun darfst. Deshalb erklären wir dir heute, weshalb deine Brust so leuchtet und warum du so stark bist.“ Maria legte den Arm um Luzies Schultern und suchte nach den richtigen Worten.
Plötzlich sprudelten die Worte