Was Jackson bewog, den christlichen Kirchen im Rahmen der Darstellung der Entwicklung der Nazi-Verschwörung so großen Platz in seiner Rede einzuräumen, ist nicht nachgewiesen, es sei denn man nähme für bare Münze, dass er der Aufzählung des Generals Fritsch’s folgte. Die von ihm viel herangezogenen R&A Analysen des OSS enthalten Derartiges jedenfalls nicht, sieht man von einer knappen Liste bei Marcuse ab, der unter den verfolgten Gruppen nach den Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschaftern ebenfalls „militante Priester“ beider Kirchen aufzählt.114
Den größten Raum und die größte Emphase reserviert Jackson bei seiner Beschreibung des Nazi Plans jedoch den Juden. Fast ein Sechstel seiner gesamten Rede ist den „Verbrechen gegen die Juden“ gewidmet, mit dem er nach der Pause am Nachmittag des 21. November seine Rede fortführt. Diese besondere Hervorhebung der „meisten und wildesten Verbrechen“ der Nazis, wie Jackson gleich eingangs die Judenverfolgung bezeichnete, ist umso bemerkenswerter, als diese gar nicht in seinen eigentlichen Aufgabenbereich, die Darstellung der Verschwörung, fielen. Entgegen der später im Prozess allgemein akzeptierten Beschränkung des Verschwörungsvorwurfs auf die Kriegsvorbereitung bezieht Jackson hier noch sehr klar die Vernichtung der Juden mit ein:
„Die Verschwörung oder der gemeinsame Plan, die Juden auszurotten, wurde so überlegt und gründlich betrieben, daß dieses Ziel der Nazis trotz der deutschen Niederlage und trotz ihrem Sturze weitgehend erreicht worden ist.“115
Wie kaum an einer anderen Stelle seiner Rede zeigt Jackson hier auch persönliche Gefühle, wenn er sich direkt an die Richter (und indirekt an Alle) wendet und erklärt, es falle ihm schwer, in die Gesichter von Menschen zu blicken, die solcher Taten fähig waren. Doch gerade dieses Zugeständnis an seine eigene emotionale Reaktion und die der Zuhörer ist ihm sogleich Argument für seine prinzipielle Linie, Emotionen aus dem Verfahren soweit als möglich herauszuhalten. „Wenn ich diese Greueltaten mit eigenen Worten wiedergäbe, – sagt er – würden Sie mich für maßlos und unzuverlässig halten.“ Und „glücklicherweise“ brauche man kein anderes Zeugnis als das der Deutschen selbst, um diese Verbrechen nachzuweisen. Und damit ist Jackson zurück im sicheren Geleis der dokumentarischen Beweisführung. Mit für die Zeit beachtlicher Detailkenntnis zeichnet er dabei nicht nur die Geschichte des deutschen Antisemitismus und dessen fortschreitender Radikalisierung nach, sondern nennt auch Zahlen, die erstaunlich nahe an denen liegen, die später die historische Forschung ermittelt hat. Inhaltlich folgt er dabei, wie oben gezeigt, den Analysen Neumanns.
Kollektive und individuelle Schuld, Schuld verbrecherischer Organisationen
Die Nazi-Verschwörung richtete sich als Angriffskrieg gegen andere Staaten, als Summe von Kriegsverbrechen gegen die Völker in Europa und als Terror und Gewalt gegen die Würde des eigenen Volkes, gegen die natürlichen und unveräußerlichen Rechte auch der Deutschen. So zumindest versteht Jackson das Verhältnis der Nazis zum deutschen Volk.116 “Conspiracy” also auch gegen das eigene Volk – damit richtet sich Jacksons Rede auch gegen die These von einer Kollektivschuld der Deutschen, wie sie damals von manchen Politikern der Alliierten teils in großer Schärfe vorgetragen wurde.117 Der individuelle Schuld- und Verantwortungsbegriff ist in Jacksons Verständnis von Strafgerichtsbarkeit unabdingbar, er widmet ihm sogar einen eigenen, „Die Einzelverantwortlichkeit“ überschriebenen Abschnitt, in dem er unterstreicht, was später in den „Nürnberger Prinzipien“ festgeschrieben werden sollte: Weder Berufung auf Immunität und „Staatsakte“ noch die auf „höheren Befehl“ kann nach dem Londoner Statut vor Strafverfolgung festgelegten Verbrechen schützen.118
Aber die Kehrseite des Verschwörungsbegriffes liegt darin, dass damit nicht die breite und vielfach freiwillige Beteiligung an den Kriegsverbrechen und den Verbrechen gegen die Menschheit völkerrechtlich erfasst werden kann. Die viel kritisierte Anklage nicht nur von Personen, sondern auch von „verbrecherischen Organisationen“ erklärt sich von daher als der Versuch, neben der Feststellung der Schuld von Individuen auch die kollektive Dimension zu erfassen, in der diese Verbrechen erst möglich wurden. Wenn die vor Gericht sitzenden Angeklagten die Verschwörer waren, dann bildeten die angeklagten Organisationen den Rahmen, in dem diese Verschwörung realisiert wurde.
Der Ankläger will dem Gericht in Bezug auf die politischen, polizeilichen und militärischen Organisationen beweisen, „daß sie den inneren Zusammenhang hergestellt haben zwischen der Planung und der Ausführung der Verbrechen.“119 Die Organisationsanklage öffnet somit den Blick auf die vielen an den Verbrechen Beteiligten, deren Taten zumindest im Nürnberger Hauptverfahren nicht untersucht werden konnten.
Die rechtliche Problematik, die in dieser Konstruktion von formeller Zugehörigkeit einerseits und konkreter Verantwortlichkeit andrerseits steckt („kriminelle Vereinigung“), löst Jackson mit dem Hinweis, dass in allen Staaten, die den Gerichtshof tragen, Verurteilungen wegen Zugehörigkeit zu illegalen Vereinigungen möglich sind.120 Das war vor allem mit Blick auf die Sowjetunion nicht unbedingt eine vertrauensbildende Aussage. Er ist andererseits Pragmatiker genug, um darauf hinzuweisen, dass die Umstände, unter denen jemand Mitglied in einer verbrecherischen Organisation wird und sich an deren Taten beteiligt, natürlich zu berücksichtigen seien. Weitaus genauer als in seiner Eröffnungsrede geht er auf diese Fragen in seiner zweiten Rede am 28. Februar 1946,121 die hier nicht abgedruckt ist.
Aus der US-amerikanischen Perspektive von 1945 gehört die Frage nach der kriminellen Schuld der vielen Einzelpersonen in den NS-Organisationen zum Gesamtprojekt der Überwindung der NS-Herrschaft und des politischen, geistig-moralischen und wirtschaftlichen Wiederaufbaus. Die Feststellung des verbrecherischen Charakters der angeklagten Organisationen war dazu aus Jacksons Sicht ein wesentlicher Beitrag des Hauptkriegsverbrecherprozesses. Damit war nicht automatisch jeder einzelne Angehörige strafrechtlich verurteilt. Er war aber „einer Bestrafung ausgesetzt, die später durch besondere Gerichte bestimmt wird und vor denen er Entlastungsgründe vorbringen kann.“122 Diese besonderen Gerichte waren dann die Spruchkammern der Entnazifizierungsverfahren. So sehr im Rückblick diese Verfahren sowohl unter Gesichtspunkten der Gerechtigkeit wie der Wirksamkeit kritisierbar sind, das von Jackson vorgetragene Konzept einer Verschränkung von begrenzter kollektiver und von individueller Verantwortlichkeit zeigt in seiner Differenziertheit großes Bemühen um eine Form, die dem Anspruch auf Gerechtigkeit nahekommt. Dieses Konzept vermeidet eine Pauschalverurteilung des deutschen Volkes als Kollektiv, will aber auch dem Anspruch gerecht werden, dass die strafrechtliche Schuld der vielen Aktivisten und Unterstützer des Nationalsozialismus individuell untersucht werden muss123“.
Auch wenn Jackson die Anklage wegen Verschwörung wie kein anderer mit Emphase in Nürnberg vorgetragen hat, mag ihn dabei schon der Zweifel beschlichen haben, den er wenige Jahre später, wieder zurück am Obersten Gerichtshof, so formulierte: „Der moderne Straftatbestand der Verschwörung ist so vage, dass er sich fast jedweder Definition entzieht.“124
Wir – die Zivilisation
„Verschwörung“ war der juristische Schlüsselbegriff in Jacksons Rede. Aber was an seiner Eröffnungssprache die Welt so beeindruckte, waren nicht seine juristischen Argumente, sondern die Art, wie er sie moralisch untermauerte. Am Anfang und am Ende seiner Rede macht er sich zum Sprecher nicht einfach der anklagenden „Vereinten Nationen“, sondern „der Zivilisation“: „Die Untaten, die wir zu verurteilen und zu bestrafen suchen, waren so ausgeklügelt, so böse und von so verwüstender Wirkung, daß die menschliche Zivilisation es nicht dulden kann, sie unbeachtet zu lassen, sie würde sonst eine Wiederholung solchen Unheils nicht überleben.“
So beginnt die Rede. Und am Ende heißt es:
„Die Zivilisation fragt, ob das Recht so zaudernd und träge sei, daß es gegenüber so schweren Verbrechen, begangen von Verbrechern von so hohem Rang, völlig hilflos ist. Die Zivilisation erwartet nicht, daß Sie den Krieg unmöglich machen können. Wohl aber erwartet sie, daß Ihr Spruch die Kraft des Völkerrechts mit seinen Vorschriften und seinen Verboten und vor allem mit seiner Sühne dem Frieden zum Beistand geben werde, so daß Männer und Frauen guten Willens in allen Ländern leben können ‚keinem Untertan und unter dem Schutz des Rechts‘.“