Rainer Huhle

Das Internationale Militärtribunal von Nürnberg 1945/46


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medizinischen Experimente zur Sprache kamen, z.B. auch im Verhör Görings. SS-Obergruppenführer und General der Waffen-SS Karl Wolff war 1. Adjutant Himmlers und sein Verbindungsmann zu Hitler, später der oberste SS-Kommandant und teilweiser Kommandierender der Reichswehr in Italien. Im Rahmen der “Operation Sunrise”,45 der Teilkapitulation der Wehrmacht in Italien, hatte er sich den Amerikanern übergeben. Vielen hatte er als der zweite Mann hinter Himmler in der SS gegolten. Warum stand dieser höchstrangige SS-Mann nicht in Nürnberg vor Gericht, sondern „nur“ Kaltenbrunner?

      Wen will Jackson mit seiner Rede überzeugen, wen spricht er an? Die Rede richtet sich zuerst an das Gericht, muss also eine überzeugende Prozessstrategie darlegen; dann natürlich an die Weltöffentlichkeit, die ein historisch-politisches Urteil über das NS-System erwartet, das noch vor kurzem Europa mit Gewalt beherrscht hatte; an die Kritiker zu Hause, die den Aufwand und den Nutzen des Unternehmens für die USA oder für eine zukünftige Welt hinterfragen; an die deutsche Öffentlichkeit, im Kontext der Bemühungen um eine “re-education”; und nicht zuletzt an eine skeptische völkerrechtliche Fachwelt.

      Die Anklage trägt die Handschrift des Bundesrichters aus Washington. Hier im Saal 600 ist er aber zuerst der Sprecher des Kollektivs der Ankläger: Er spricht im „Wir-Ton“ – für die vier großen Nationen und die 17 weiteren Staaten, die sich dem Verfahren angeschlossen hatten. Damit erreicht er eine gewisse erhabene und geschichtlich-­bedeutsame Tonlage. Blickt man auf die Liste der Länder und denkt an das Leid auch der „kleinen“ Völker Europas, dessen Ende erst kurze Zeit zurücklag, wird man den Ton nicht als zu pathetisch empfinden. Es sind eben nicht nur die Sieger des Krieges, die als Eroberer kamen, um „Gericht zu halten“. Die Anklage sprach auch im Namen der Staaten, die überfallen worden waren und sich seit 1942 gegen die Achsenmächte als „Vereinte Nationen“ zusammengefunden hatten. Sie alle waren Opfer der Verbrechen, die Wehrmacht, Einsatzgruppen, SS und Gestapo, begangen hatten.

      Woher kann das Gericht seine Legitimität und sein Verfahrensrecht nehmen?