Rainer Huhle

Das Internationale Militärtribunal von Nürnberg 1945/46


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teils deutliche Unterschiede zwischen den vier Rednern. Auch im weiteren Verlauf des Verfahrens wurde immer wieder sichtbar, dass die bei der Londoner Vorbereitungskonferenz in der Formulierung der Anklage mühsam überwundenen Differenzen weiter bestanden. Zwar muss bei der Lektüre der Reden berücksichtigt werden, dass die Ankläger eine Arbeitsteilung für den Vortrag der verschiedenen Anklagepunkte vereinbart hatten. Doch alle Ankläger nutzten ihre großen Auftritte zu Beginn und Ende des Prozesses dafür, auch ihre Gesamtsicht auf die Anklage deutlich zu machen. Die unterschiedlichen Gewichtungen sind daher, trotz Berücksichtigung der vereinbarten Schwerpunkte, aufschlussreich.

      Vor allem den Franzosen, mit anderer Argumentation aber auch den sowjetischen Anklägern, war nicht nur der Anklagepunkt des Angriffskriegs im Grund fremd. Insbesondere das amerikanische Konzept der „Verschwörung“ lehnten sie erkennbar ab. Das Rechtsprinzip des „fair trial“, der Garantien einer fairen Verteidigung, wurde wiederum von den Amerikanern besonders hochgehalten, während es für die sowjetischen Vertreter kein Thema war. Solche Unterschiede ziehen sich bis in die Urteilsfindung, bei der Sowjets und Franzosen für alle Angeklagten die Todesstrafe verlangten, während Briten und vor allem Amerikaner für differenzierte Urteile stimmten.

      Die amerikanische Anklage setzte die Akzente genau umgekehrt. Innerhalb der US-Regierung war Robert H. Jackson ein entschiedener Gegner der durchaus vorhandenen Vertreter einer Kollektivschuldthese und der daraus folgenden politischen Strategien gewesen. Seine Betonung einer umfassenden „Verschwörung“ der Angeklagten zur Begehung ihrer Verbrechen machte politisch Sinn im Zusammenhang der sehr bald auf Wiederaufbau und Wiedereingliederung eines von Nazis bereinigten Deutschlands gerichteten amerikanischen Besatzungspolitik. Sie entsprang aber auch einer genuin amerikanischen Rechtsfigur in der Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität und organisiertem Verbrechen, an der Jackson in seiner Zeit im Justizministerium beteiligt gewesen war.

      Für die Amerikaner wiederum war der Angriffskrieg das wesentliche Ziel dieses verschwörerischen „Nazi-Plans“. Die Sowjets hingegen klagten nicht, wie Amerikaner und Briten, den Angriffskrieg als grundsätzlichen Völkerrechtsverstoß an, sondern den konkreten Angriffskrieg gegen ihr Land. Für Frankreich wiederum stand weniger der Angriffskrieg als die Verbrechen gegen die Menschheit bzw. das „Verbrechen gegen den menschlichen Geist“ im Mittelpunkt.

      Es sind gerade auch solche Unterschiede, die es lohnen, die Anklagereden genau zu lesen. Die einführenden Essays dieses Bandes sollen dabei Hintergrundinformation liefern, Botschaften auch zwischen den Zeilen der Reden beleuchten und insgesamt helfen, sie im zeitgeschichtlichen politischen und juristischen Kontext zu lesen. Auch die durchaus ungewöhnlichen Biografien der Ankläger verdienen Interesse, denn keiner der Ankläger war durch seine bisherige berufliche Laufbahn auf ein solches Verfahren auf der Basis „revolutionärer Grundlagen“ – so der britische Ankläger Shawcross – vorbereitet. Gleichwohl, auch das wird in den Essays herausgearbeitet, repräsentieren die Reden nicht nur die individuellen Ansichten der vier Ankläger, sondern das Ergebnis intensiver und oft kontroverser Diskussionen in den einzelnen Ländern. Hinter ihrer oft geschliffenen Rhetorik verbirgt sich ein nüchternes Fazit dieser Diskussionen.

      Doch die hier wieder vorgelegten Texte waren ja gesprochene Reden, rhetorisch eindrucksvolle Reden, und müssen als solche gelesen und gewürdigt werden. Von den vier Eröffnungsreden und den vier Schlussplädoyers wird hier je eine Rede der vier Mächte nachgedruckt und mit kommentierenden Essays begleitet. Bei den Anklägern der USA, Frankreichs und der Sowjetunion haben wir uns für die Eröffnungsrede entschieden, weil in ihnen die grundlegenden Ideen der jeweiligen Anklage am deutlichsten formuliert sind. Beim britischen Ankläger bringen wir dagegen die Schlussrede, weil sie die substantiellere der beiden großen Reden ist und weil in ihr, in Absprache mit den übrigen Anklägern, noch einmal eine Gesamtsicht auf die Anklage und eine gebündelte juristische Antwort auf die Einwände der Verteidiger zum Tragen kommen sollte.

      Der offizielle Charakter der Texte bedeutet aber selbstverständlich nicht, dass keine Fragen an diese Fassung zu stellen wären. Die von den Anklägern im Verfahren vorgetragenen Reden und die gedruckten Fassungen sind nicht in allen Details identisch, wie schon ein Vergleich zwischen den erhaltenen Film- und Audiomitschnitten der Reden und den protokollierten Niederschriften ergibt, und wie es auch schon Zeitzeugen festgehalten haben. Diese in aller Regel nicht gravierenden Unterschiede erklären sich, wenn man sich die Produktionsbedingungen der Protokolle vergegenwärtigt.