Antwort des britischen Anklägers
Die Schlussrede des britischen Hauptanklägers Hartley Shawcross am 26. Juli 1946635
Rainer Huhle
Einleitung
Als Anfang der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts der UN-Sicherheitsrat zwei internationale Sondergerichtshöfe zur Untersuchung und Verurteilung von Verbrechen im ehemaligen Jugoslawien und in Ruanda einsetzte, und erst recht, als 1998 in Rom beschlossen wurde, einen Internationalen Strafgerichtshof einzusetzen, da erinnerte man sich in aller Welt auch wieder an das Internationale Militärtribunal (IMT) von Nürnberg, in dem über 22 hochrangige Nationalsozialisten Recht gesprochen wurde. Die „Nürnberger Prinzipien“, von der UNO nach Ende des IMT beschlossen1 und dann über Jahrzehnte nahezu vergessen, wurden wiederentdeckt. „Nürnberg“ wurde zum Ausgangs- und Bezugspunkt dieser neuen internationalen Strafgerichtshöfe erklärt, zum „Meilenstein in der Entwicklung des Völkerrechts“,2 zum „Wegweiser zu einer weltweiten Gesellschaft […], die sich auf Wert und Würde der menschlichen Persönlichkeit gründet.“3
Diese Rückblicke auf Nürnberg als Meilenstein, Ursprung, Geburtsstätte oder andere Gründungsmetaphern für das Völkerstrafrecht sind zweifellos berechtigt. Indem sie aber eine Entwicklungslinie „Von Nürnberg nach Den Haag“ unterstellen, den Nürnberger Prozess also vor allen als Vorläufer für das heutige Völkerstrafrecht sehen, geraten die spezifischen historischen Umstände der Nürnberger Verfahren samt ihrer Errungenschaften und Fehler leicht aus dem Blick. Wenn heute fast einhellig positiv auf „Nürnberg“ Bezug genommen wird, geht unter, wie sehr jeder einzelne Aspekt des Internationalen Tribunals seinerzeit umkämpft war, wie viele Rechtsauffassungen nicht nur zwischen Anklägern und Verteidigern, sondern auch innerhalb der „Vier siegreichen Nationen“ in Nürnberg und in den jeweiligen Staaten aufeinander stießen. Und damit geht eine Quelle rechtspolitischer Debatten verloren, die bis heute bedeutsam sind und produktiv sein können.
Verloren geht auch das Verständnis dafür, dass ein internationales Strafverfahren wegen politischer Verbrechen notwendigerweise ein politischer Prozess ist, der immer auch politisch motiviert ist,4 dass dies aber kein Makel ist, wenn er gleichzeitig ein Versuch ist, diese politischen Absichten innerhalb der Schranken des Rechts zu verwirklichen. Der Nürnberger Prozess war nicht alternativlos, er war in der Tat, wie der amerikanische Ankläger Robert H. Jackson es formulierte, „eines der bedeutsamsten Zugeständnisse, das die Macht jemals der Vernunft eingeräumt hat.“5 Von den in ganz Europa in weit größerem Umfang bei Kriegsende durchgeführten Hinrichtungen ohne oder mit „kurzem Prozess“ redet heute kaum noch jemand. Das Wagnis, mit einem großen politischen Prozess nicht nur ein Urteil über die NS-Täter zu sprechen, sondern sich gleichzeitig dem Urteil der Weltöffentlichkeit und der Geschichte zu stellen, macht „Nürnberg“ zu dem lieu de mémoire, jenem Erinnerungsort auch der Rechtsgeschichte, der es ohne Zweifel geworden ist.6
Die Zeitgenossen, nicht zuletzt die Akteure selbst, waren sich dieser historischen Bedeutung des Prozesses bewusst, ebenso der damit verbundenen Herausforderung an ihr Handeln. Zwar sprachen am Ende die acht Richter das historische Nürnberger Urteil, den sichtbarsten Part in dem Prozess hatten jedoch, entsprechend der Dramaturgie eines im Wesentlichen von angelsächsischem Recht geprägten Verfahrens, die Ankläger. Es waren auch die Ankläger, die schon bei der Ausarbeitung der Rechtsprinzipien des Prozesses auf der Londoner Konferenz die Hauptrolle spielten. Jede der „Vier siegreichen Mächte“ war mit einem Anklagestab in Nürnberg vertreten, und jeder der vier Hauptankläger hielt eine große Eröffnungsrede und ein umfassendes Schlussplädoyer.
In diesen Reden mussten sie sich nicht nur in der Kunst des rhetorisch geschliffenen Plädierens beweisen. Sie mussten vor allem die rechtspolitischen, ja philosophischen Grundlagen ihrer Anklage deutlich machen. Und sie taten das nicht nur mit Blick auf das Verfahren, auf die Notwendigkeit, die Richter zu überzeugen, sondern auch im Bewusstsein ihrer historischen Mission und Rolle. Die Reden der Ankläger enthalten alle juristischen und politischen Probleme des Prozesses, die Widersprüche und Defizite ebenso wie die großen rechtspolitischen Durchbrüche in diesem Verfahren. Darüber hinaus spiegeln sich in ihnen auch ihre jeweilige Sicht auf die Verbrechen des Nationalsozialismus und ihre Zukunftsvisionen auf ein internationales Strafrecht für Verbrechen gegen den Frieden und gegen die Menschheit. In den Reden der Ankläger kristallisiert sich das, was „Nürnberg“ ausmacht, am konzentriertesten und deutlichsten. Jeder der vier Hauptankläger trug seine Argumente – bzw. die seines Landes – für die Schuld der Angeklagten zu Beginn des Verfahrens gebündelt vor, während anschließend ihre Mitarbeiter die zahlreichen detaillierten Vorwürfe darlegten. Gegen Schluss des Verfahrens hielten die Hauptankläger erneut ein zusammenfassendes Plädoyer.
Von diesen Reden ist diejenige des amerikanischen Anklägers Robert H. Jackson als einzige ins Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit gelangt. Ohne Zweifel war Jackson die prägende Figur des Verfahrens. Er war der Architekt des Tribunals, und seine Eröffnungsrede gilt zu Recht als eine der großen Reden des 20. Jahrhunderts. Sein Name und seine Rede prägen das historische Gedächtnis des Prozesses. Die Reden der drei weiteren Chefankläger, des Briten Hartley Shawcross, des Franzosen François de Menthon sowie des sowjetischen Anklägers Roman Rudenko, sind hingegen so gut wie unbekannt geblieben. Zu Unrecht, denn in ihnen finden sich ebenfalls Gedankengänge, die für den Umgang mit der NS-Vergangenheit in den jeweiligen Ländern und darüber hinaus bedeutsam waren. Sie alle waren zukunftsweisend für die nationale und internationale juristische Behandlung von Staatsverbrechen.
Liest man die verschiedenen Reden, wird deutlich, dass es zwischen ihnen ebenso viele Gemeinsamkeiten wie Unterschiede gab. Gemeinsam war ihnen die absolute Verurteilung der NS-Verbrechen und die Überzeugung, dass alle in Nürnberg vor Gericht gestellten Angeklagten auch schuldig waren. Schließlich hatten sich die vier Ankläger ja auf den Anklagetext gegen diese Beschuldigten geeinigt und in den vorbereitenden Verhandlungen in London im Sommer 1945 auch die Verfahrensregeln und die materiellen Anklagepunkte gemeinsam im sogenannten Londoner Statut verabschiedet. Gemeinsam war ihnen auch die Überzeugung, dass die angeklagten Verbrechen so ungeheuerlich waren, dass bestimmte Entschuldigungsgründe von vornherein nicht zum Tragen kommen konnten. Das gilt zum Beispiel für die Feststellung, dass die Berufung auf Befehlsgehorsam keine Entschuldigung für hochrangige Funktionsträger sein könne. Es gilt auch für die Interpretation des sogenannten „Rückwirkungsverbots“, also des Rechtsprinzips, wonach niemand wegen einer Tat verurteilt werden kann, die zur Zeit ihrer Begehung gegen kein geschriebenes Gesetz verstieß. Doch schon hier lassen sich auch unterschiedliche Haltungen in den Reden der verschiedenen Ankläger feststellen. Das Rückwirkungsverbot hat im kontinentaleuropäischen, wesentlich durch geschriebenes Gesetz geprägten Rechtssystem mehr Gewicht als im angelsächsischen, das stärker ein Richterrecht ist, das sich von Fall zu Fall fortentwickelt. In der französischen Anklage und Prozessführung findet man diesem Punkt gegenüber entsprechend mehr Aufmerksamkeit als bei Shawcross und Jackson. Während die Franzosen bei der Bewertung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit hier mit Amerikanern und Briten übereinstimmten, legten sie beim Verbrechen des Angriffskriegs