nicht vereinheitlicht wurden.
Eine Analyse vor allem der juristischen Fragestellungen und Ideen des Nürnberger Prozesses muss diese großen sprachlichen Varianten immer im Blick haben, die nicht nur auf Übersetzungsprobleme zurückzuführen sind, sondern auch die Tatsache spiegeln, dass das völkerrechtliche und völkerstrafrechtliche Vokabular, das im Nürnberger Prozess und den daraus sich entwickelnden Nürnberger Prinzipien gebraucht wurde, sich noch im Fluss befand. Das gilt für die englische und französische Ausgabe der Protokolle, für die deutsche Edition mussten die Übersetzerinnen und Übersetzer das völker- und menschenrechtliche Grundvokabular teils erst erfinden. Sie kamen dabei oft zu interessanten Lösungen, die auch heute noch zu denken geben. Eine Neuübersetzung würde heute dennoch in vielen Details anders aussehen.
Für die vorliegende Ausgabe haben wir daher nicht nur aus pragmatischen Gründen die originale Ausgabe von 1947 zugrunde gelegt. Sie ist ein Zeitdokument, das uns auch und gerade durch gewisse sprachliche Unebenheiten darauf hinweist, dass sich darunter auch juristische Stolpersteine verbergen können. Die Sprache der vier hier neu gedruckten Reden in deutscher Übersetzung wurde also vollständig respektiert, auch die seinerzeitige Rechtschreibung wurde beibehalten, lediglich offensichtliche Druckfehler wurden bereinigt. Wo nötig und sinnvoll, wird in den einleitenden Essays auf die Originalsprache der jeweiligen Rede Bezug genommen, und es werden Übersetzungsvarianten mit einbezogen, die oft sehr aufschlussreich sein können. Konsequenterweise hat der Herausgeber auch nicht versucht, die terminologische Vielfalt der Originaltexte durch eine einheitliche Sprache in den vier einführenden Essays zu glätten. Alle Zitate aus fremdsprachigen Quellen wurden von den Verfassern ins Deutsche übersetzt, es sei denn es wird ausdrücklich auf eine andere Übersetzung verwiesen.
Eine genaue Lektüre der Anklägerreden stößt also immer wieder auf terminologische Fragen, die tiefreichende inhaltliche Fragen bis heute aufwerfen, die wichtigsten werden in den einzelnen Essays angesprochen. Herausgegriffen sei hier stellvertretend eines, das besonders in der deutschen Version der Prozessprotokolle zu Missverständnissen führen kann: Der letzte und in mancher Hinsicht schwierigste Anklagepunkt in Nürnberg waren die im Englischen als „Crimes against Humanity“ bezeichneten Taten. In der deutschen Ausgabe der Prozessprotokolle wird der Ausdruck überwiegend mit „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ übersetzt. So wird er auch heute in praktisch allen offiziellen deutschsprachigen Texten verwandt, wie z.B. im Statut des Internationalen Strafgerichtshofs. In den Prozessprotokollen finden sich jedoch auch alternative Übersetzungen, z.B. „Verbrechen gegen die Humanität“. Während es in Jacksons Rede „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ heißt, findet man in der Eröffnungsrede des britischen Anklägers Shawcross und gelegentlich auch im Urteil die Übersetzung „Verbrechen gegen die Menschheit“.18 Gleiches gilt für die Übersetzung des Begriffs ins Russische.19
Was war mit „humanity“ gemeint? Aus dem Gebrauch des Begriffs „crimes against humanity“ bzw. „crimes contre l’humanité“ in den Nürnberger Verfahren selbst wie auch in der weiteren Entwicklung dieses Tatbestands im Völkerstrafrecht geht hervor, dass sich „humanity“ hier nicht auf einen Mangel an Menschlichkeit bezieht, sondern darauf, dass diese Verbrechen sich gegen die Menschheit bzw. „das Gewissen der Menschheit“ als Ganzes richteten.20 Für Shawcross waren „Crimes against Humanity“ solche, durch die „das Gefühl der Menschheit zutiefst verletzt“ wird.21 Der große rumänische Völkerrechtler Vespasien Pella formulierte den Sinn des Begriffs „Verbrechen gegen die Menschheit“ einige Jahre später prägnant: „Was diese Taten zu Verbrechen gegen die Menschheit macht, ist die Tatsache, dass sie ihrem Wesen nach gegen das Menschengeschlecht [le genre humain] gerichtet sind.“22 Auch der französische Richter am IMT, Donnedieu de Vabres, betonte, dass von den beiden Bedeutungen von „humanité“ bzw. „humanity“ als „Menschheit“ und „Menschlichkeit“ die erstere die angemessene sei.23 Dieser Sinn war in Nürnberg durchaus klar. Was ein Problem bereitete, war die Frage, ob diese Verbrechen als eigenständiger Tatbestand nach internationalem Recht gelten konnten. Das IMT blieb hier sehr zurückhaltend, vor allem im Urteil, und zog es vor, diese Verbrechen, einschließlich der Vernichtung der Juden, im Kontext der Kriegsverbrechen zu sehen.24
So zeigt sich, dass eine gründliche und kritische Lektüre dieser historischen Texte nicht nur einen Einblick gewissermaßen in die Werkstatt dieses „Meilensteins“ des Völkerrechts geben kann, sondern auch zu Fragen führt, die bis heute kontrovers diskutiert werden. Der Blick zurück auf „Nürnberg“ bringt für diese Fragen keine Lösungen, aber er hilft, sie besser zu verstehen, und zu erkennen, dass auch die Fragen historisch geprägt sind und immer neu formuliert werden müssen.
Der vorliegende Band entstand im Rahmen der langjährigen Arbeit im Nürnberger Menschenrechtszentrum zu den Nürnberger Prozessen und seinen Nachwirkungen.25 Unser besonderer Dank gilt Andreas Gehring, Jonas Nußbaumer, Olga Lévesque und Henrike Claussen für die Unterstützung bei Recherche und Korrektur, sowie Helmut Altrichter, John Barrett, Gerd Hankel, Natal’ja Lebedeva, Kerstin von Lingen und Alfons Söllner für ihre konstruktiven Kommentare.
1 UN-Resolution 95 (I), 11. Dezember 1946.
2 Schon der britische Ankläger Hartley Shawcross bezeichnete das IMT als „Markstein [im Original „milestone“] in der Geschichte der Zivilisation“ (in diesem Band S. 472), die Metapher vom Meilenstein durchzieht die Literatur zum Nürnberger Prozess bis heute, vgl. z.B. Tomuschat, Legacy.
3 van Boven, Jeder Mensch, S. 116.
4 Vgl. Kirchheimer, Politische Justiz, Kap- VIII, S. 447 ff.
5 In diesem Band S. 61.
6 Vgl. Kosfeld, Nürnberg.
7 S. dazu die Beiträge zu Jackson und de Menthon.
8 NP.
9 NP Bd. 1: „Dieser Band ist gemäß den Weisungen des Internationalen Militärgerichtshofes vom Sekretariat des Gerichtshofes unter der Autorität des Obersten Kontrollrats für Deutschland veröffentlicht.“
10 S. den Essay zu Jackson in diesem Band, S. 58, Fußnote 139.
11 „Nachts mussten wir das Gestammel („gibberish“) korrigieren, das am Tag mitgeschrieben worden war.“ So formulierte es der IMT-Dolmetscher Peter Less (Gesse, Legend).
12 Der gut englisch sprechende Angeklagte Rosenberg machte von solchen Einwänden besonders ausgiebig Gebrauch, s. Kalverkämper, Erstbewährung, S. 110ff.
13 Die IMT-Dolmetscherin Marie-France Skuncke berichtet, dass z.B. die groben Beleidigungen Julius Streichers nicht ins Protokoll aufgenommen wurden (Skuncke, Tout a commencé). Oder auf Verlangen der sowjetischen Delegation wurden bestimmte Passagen gestrichen, s. dazu den Essay zu Rudenko in diesem Band.
14 Ramler, Prozesse, S. 81f.
15 So der Dolmetscher Peter Uiberall, zitiert in Baigorri-Jalón, From Paris, S. 226.
16 Gaiba, Origins, S. 51f.