Angeklagten, die jetzt auf der Einhaltung strenger rechtsstaatlicher Prinzipien bestanden, diese in nie gekannter Weise verhöhnt hätten. Diese Männer hätten sich nicht im Geringsten um das Gesetz gekümmert. Das Rückwirkungsverbot hätten sie bei ihren eigenen Rechtsbrüchen ganz und gar nicht beherzigt. Recht hätten sie gebrochen, wenn es ihnen im Weg war. Überhaupt sei ihr Verhältnis zum Recht rein opportunistisch gewesen, ohne Anerkennung bindender Normen. Sie könnten froh sein, jetzt vor einem ordentlichen Gericht zu stehen, im Gegensatz zu der Justiz, die unter dem Nationalsozialismus geherrscht habe.
Grundsätzliche Einwände: Rückwirkungsverbot und Siegerjustiz
Aber auch einige grundsätzliche Einwände gegen den Prozess nimmt Jackson schon in dieser Eröffnungsrede auf.
Zu diesen zählt, dass die Anklagepunkte gegen das Rechtsprinzip des „nulla poena sine lege praevia“, also gegen das „Rückwirkungsverbot“ verstießen. Er fragt, ob die Täter denn nicht gewusst hätten, dass sie nicht morden dürfen? Haben sie nicht die Unterlagen ihrer Verbrechen vernichtet, um sie zu vertuschen? Warum haben sie Geheimbefehle erlassen?60 Im Übrigen kennt das angelsächsische Recht, das sich weniger auf der Basis von geschriebenen Gesetzen als von Gerichtsentscheidungen (“case law”) entwickelt, kein so formales Verbot, ohne zum Zeitpunkt der Tat geschriebenes Gesetz zu urteilen.61 Beim Völkerrecht – und hier schließt er offensichtlich das Völkerstrafrecht mit ein – gebe es dieses Rückwirkungsverbot ohnehin nicht, denn Völkerrecht sei, so führt Jackson in einer längeren Passage aus, „mehr als eine gelehrte Sammlung abstrakter und unveränderlicher Grundsätze.“ Es bilde sich aus Vertrags- und Gewohnheitsrecht, und beides entwickle sich aus der Notwendigkeit, auf konkrete Situationen mit den Mitteln des Rechts zu reagieren. Das sei in der Geschichte des Völkerrechts so gewesen und heute nicht anders. Das Völkerrecht, so schließt Jackson sein Argument, „wächst, wie das gemeine Recht (“Common Law”)62 in Entscheidungen, die von Zeit zu Zeit getroffen werden, um festgelegte Grundsätze neuen Lagen anzupassen. Das Völkerrecht muß sich, soll es sich überhaupt entwickeln, wie das gemeine Recht (“Common Law”) von Fall zu Fall entwickeln, und zwar schreitet es immer auf Kosten derer fort, die es verkannt und ihren Irrtum dann zu spät bemerkt haben.“63
Ein zweiter grundsätzlicher Einwand richtet sich gegen die Legitimität des Gerichts selbst. Wie kann ein von den Siegermächten aus eigener Macht eingesetztes Sondergericht beanspruchen, dem Rechtsanspruch auf ein ordentliches Verfahren zu genügen? Dieser unter dem Stichwort „Siegerjustiz“ geläufigen Kritik, die bereits am ersten Tag des Prozesses von der Verteidigung vorgebracht und vom Gericht zurückgewiesen wurde, begegnet Jackson mit der Frage, welche Alternativen es denn gebe? Welche Neutralen seien denn übrig geblieben, um ein solches Verfahren durchzuführen? Und der Versuch, die Deutschen selbst zu Richtern über ihre Kriegshandlungen zu machen, sei schließlich nach dem Ersten Weltkrieg kläglich gescheitert.64 1945 musste nicht ausdrücklich gesagt werden, dass damit die Prozesse vor dem Leipziger Reichsgericht ab 1921 gemeint waren. Nach Artikel 227 und 228 des Versailler Vertrages sollte der deutsche Kaiser Wilhelm II. als Alleinverantwortlicher vor einem zu bildenden Internationalen Strafgericht verurteilt werden, erhielt aber von den Niederlanden Asyl. Frankreich hatte darüber hinaus eine Liste von deutschen Beschuldigten erstellt, die ebenfalls angeklagt werden sollten. In insgesamt 17 Verfahren kam es zu zehn Verurteilungen und sieben Freisprüchen, Hunderte weiterer Verfahren wurden eingestellt.65 Diese im Friedensvertrag geforderten deutschen Prozesse wurden von den Kriegsgegnern Deutschlands als inadäquat beurteilt.66
Dass staatliche Repräsentanten und Militärs nicht über dem Gesetz stehen, war somit für Deutschland keine neue Erfahrung. Jackson unterstrich das mit der Maxime, dass der Gedanke des Rechts nicht nur das Verhalten kleiner Leute beherrschen dürfe, sondern dass „auch die Mächtigen, die Herrscher selbst ‚Gott und dem Gesetz Untertan sind‘“, die schon ein oberster englischer Richter im 17. Jahrhundert gegen seinen König vertreten hatte67 – ein seltener Ausflug des Juristen in die Geschichte. Aber auf welches Recht und Gesetz kann sich die Anklage in dieser Situation berufen? Jacksons letztbegründende Instanz ist die „Weisheit, das Gerechtigkeitsgefühl“ einer überwältigenden Mehrheit aller zivilisierten Menschen, die sich hier im Willen von 21 Regierungen ausdrücke.68 Der amerikanische Jurist beansprucht damit universelle Legitimität für das Verfahren, jenseits aller rechtstechnischen Einwände.
So wirkungsvoll diese rhetorischen Höhenflüge bis heute sind, sie enthoben Jackson nicht der Notwendigkeit, sein schon im ersten Satz der Rede formuliertes Hauptziel, die Verurteilung der Angeklagten wegen „Verbrechen gegen den Frieden“, mit soliden völkerstrafrechtlichen Argumenten zu untermauern. Das sollte sich als schwieriger herausstellen als es im Frühjahr 1945 aussah.
Die Schwierigkeiten mit dem Tatbestand „Angriffskrieg“
Der Versailler Friedensvertrag mit seinen Bestimmungen über die individuellen Verantwortlichkeiten für den Angriffskrieg und Kriegsverbrechen wurde in Nürnberg als rechtliche Begründung für das Statut des IMT erstaunlich wenig angeführt. Auch Jackson geht nur en passant darauf ein.69 Allerdings war der Anklagepunkt „Verbrechen gegen den Frieden“ in der Arbeitsteilung der Ankläger ja dem britischen Vertreter zugeteilt worden. In seiner Rede geht Jackson dennoch mit einiger Ausführlichkeit auf die Fragen der Legitimität von Kriegen ein. Er blickt auf die Geschichte der Lehre vom gerechten Krieg bei Thomas von Aquin und Hugo Grotius und bedauert deren Verabschiedung durch die „nichtswürdige Doktrin“70 des Völkerrechts im Zeitalter des Imperialismus, das jeden Krieg als Ausdruck legitimen staatlichen Handelns betrachtete. Nachdem er „Schreckensherrschaft und Kriegsvorbereitung“ sowie „Angriffsversuche“71 dargestellt hat, kommt er ausführlicher zum „Angriffskrieg“.72 „Ganz allgemein gesehen, wird unsere Beweisführung ergeben, daß sich die Angeklagten alle zu irgendeiner Zeit gemeinsam mit der Nazi-Partei zu einem Plan zusammengetan hatten, von dem sie wohl wußten, daß er nur durch den Ausbruch eines Krieges in Europa verwirklicht werden konnte.“73 Jackson sieht die Angeklagten als Vertreter einer nationalistischen, militaristischen, von Rassenhass geprägten imperialistischen Politik.74 Hier macht er den Unterschied zu anderen Nationen aus, die ja durchaus auch von imperialistischer Gewalt oder von Rassenhass geprägt seien. Das Spezifische, und Illegale des Krieges (nicht des Unterdrückungs- und Vernichtungsprogramms) der Nazis besteht für ihn in seiner besonderen politisch-militärischen Zielsetzung, nämlich in der Herrschaft über das europäische Festland, um „Lebensraum“ und Ressourcen zu gewinnen, was die direkte Unterdrückung und Ausbeutung anderer Völker bedeutete, einschließlich der Vernichtung der Juden.75
Angesichts Jacksons völkerrechtlicher Generallinie, die „Folgerichtigkeit“ des Angriffskriegs vom Programm der NSDAP bis zum Angriff auf die Sowjetunion nachzuweisen, treten die historischen Fragen nach dem politischen Kontext dieser Expansionspolitik zurück. Rechtlich gesehen sind sie für ihn ohne Relevanz, und so streift er sie nur am Rande. Welche falschen Signalwirkungen gingen zum Beispiel von der zögerlichen Politik der Westmächte angesichts der Rheinland-Besetzung 1936 oder vom Münchner Abkommen von 1938 aus? In Jacksons Argumentationslinie sind solche Ereignisse nur ein weiterer Baustein im langen Plan für den großen Angriffskrieg. Der Überfall auf die Tschechoslowakei im März 1939 ist ihm immerhin den Kommentar wert: „Wieder war der Westen bestürzt, aber er fürchtete den Krieg.“76 Das Fehlen einer umfassenderen Sicht auf die Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs haben Historiker Jackson und überhaupt dem IMT häufig vorgeworfen.77
Solche Einwände übersehen allerdings, dass es am IMT nicht um eine historische Gesamtbewertung ging, sondern um die Feststellung von internationalen Rechtsverstößen. Noch so naive oder fehlgeleitete Versuche, den drohenden Krieg zu vermeiden, gehören dazu nicht. Sie sind auch kein rechtliches Argument zur Entschuldigung eines Angriffskriegs und gehörten insofern auch nicht in Jacksons Beweisführung. Das gilt selbst für den von Jackson kurz angesprochenen,78 und von der Verteidigung und großen Teilen der Öffentlichkeit immer wieder angeführten Nichtangriffspakt Hitler-Deutschlands mit der Sowjetunion von 1939. Zwar machte dieses Geheimabkommen die Sowjetunion objektiv zum Mittäter des Angriffskriegs und ihre Position als Ankläger in Nürnberg unglaubwürdig,79 den deutschen Angriffskrieg damit aber nicht