Birgit Jennerjahn-Hakenes

Zeit verteilt auf alle Wunden


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Blick auf den Wandkalender sagte ihm, dass er nun zwei Wochen frei hatte. Frei. Es war ihm mit einem Mal alles zu eng hier, er hatte das Gefühl, an die frische Luft zu müssen, um atmen zu können. Durchatmen. Er öffnete die Haustür und trat in den Laubengang hinaus. Ein angenehmes Kribbeln durchströmte ihn, gleichzeitig taktierte es seinen Herzschlag. Laut Wettervorhersage sollten heute zwanzig Grad erreicht werden, zwölf Grad mehr als gestern. Martin bekam Lust auf einen Waldspaziergang. Und das an einem Montag, zudem angeblich krank? Sollte er? Der Wald lag unweit seiner Wohnung, er musste nur ein paar Straßen überqueren, schon war er im Schlosspark, dahinter begann das Waldgebiet. Es war unwahrscheinlich, dass er auf dem Weg jemanden traf, der ihn fragte, warum er nicht arbeitete, aber Martin wollte auf Nummer sicher gehen und entschied sich für einen anderen Wald, den am Rand des Dorfes seiner Kindheit.

      Unterwegs hielt er bei einem Bäcker, kaufte zwei Croissants und nahm auch einen Coffee to go mit. »Den trinke ich im Gehen«, sagte er zur Verkäuferin, die ihn verständnislos ansah. Aber er trank den Kaffee schon während der viertelstündigen Autofahrt aus und bereute, dass er nicht auch noch eine Flasche Wasser mitgenommen hatte. Wo kam nur dieser Durst her?

      Er streifte das Dorf und parkte am Waldrand, schnappte sich die Bäckertüte vom Beifahrersitz und lief los. Sonnenstrahlen drängten sich zwischen Kiefern und Laubbäumen hindurch. Ein paar Meter lief er über den breiten Kiesweg, den für gewöhnlich die meisten Spaziergänger nutzten. Dann sah er eine Abzweigung, die ihm bekannt vorkam, und er bog ein. Das war der schmale Pfad, den er schon als Kind so gerne gelaufen war. Am Ende ging es leicht bergauf durch einen dichten Nadelwald. Hier hatten sie als Kinder Hütten gebaut und sich gegen imaginäre Räuber verteidigt.

      Obwohl es nur ein kleiner Anstieg war und den Namen Berg kaum verdiente, kam er aus der Puste. Früher bin ich hier hochgerannt, dachte er.

      Er stieß auf eine Lichtung, in deren Mitte ein Baumstamm ihn einlud, sich hier auszuruhen. Ein guter Ort, die Croissants zu genießen, dachte er. Er war umgeben von einer Stille, die nur von sich einander zurufenden Meisen unterbrochen wurde, was ihn ebensowenig störte, wie das Klopfen des Spechts. Stille und Waldgeräusche ergaben in der Summe immer noch eine Ruhe, die er aus der Stadt nicht kannte. Die Sonne leuchtete dieses wunderbare Fleckchen Erde aus und wärmte ihn. Er atmete tief durch und langte in die Bäckertüte. Das Rascheln des Papiers störte ihn. Es passte nicht hierher. Passe ich noch hierher, schoss es ihm durch den Kopf. Er konnte den Denkvorgang nicht stoppen – Passe ich wieder hierher? Sein Herz antwortete mit Stolpern. Martin ignorierte es, er wollte die Croissants genießen und biss hinein, verschlang schließlich beide und bekam Bauchschmerzen. Hätte ich sie bloß nicht so schnell gegessen, dachte er. Und dann merkte er, dass er dringend eine Toilette brauchte. Er wollte nicht mitten in den Wald … wie ein Hund … Er sah nur eine Möglichkeit, Großmutters Haus, und eilte zum Auto.

      Zum dritten Mal innerhalb kurzer Zeit schloss er das Haus seiner Großmutter auf. Er war noch nicht eingetreten, da rief Agnes Wondra aus dem Fenster nebenan: »Martin, du bist zurück!«

      Er hatte Bauchkrämpfe, verharrte aber vor der Tür und sah nach oben. »Ich kann jetzt nicht«, presste er hervor. Ein bisschen kam er sich vor wie ein verlorener Sohn von Frau Wondra, die kinderlos geblieben war und sich seit der vierten Fehlgeburt vor vielen Jahren schwarz kleidete.

      »Die Zeit verteilt auf alle Wunden.«

      Martin winkte ihr, lief hinein und stürzte zur Toilette. Er dachte über Frau Wondra und ihr Schicksal nach. Vier nie geborene Kinder. Er hielt sie nicht für verrückt, das hatte er nie getan. Schon komisch, was sich die Menschen manchmal zusammenreimten. Was dachten sie in der Schule nun über ihn, nachdem er sich krank gemeldet hatte? Rechtfertigen würde er sich jedenfalls nicht. Er allein wusste, was er in seinem Beruf schon geleistet hatte. Er allein wusste, wie engagiert er die ersten Jahre unterrichtet und gegen starre Lehrpläne angekämpft hatte. Von Ferien zu Ferien, die nur immer einen Aufschub boten, ein Hinauszögern dessen bedeuteten, was unvermeidlich war: sich als Lehrer der Aufgabe zu stellen, Sprache zu unterrichten. Dabei lag es gar nicht an seinen Fächern Englisch und Deutsch. Vor allem Letzteres liebte er. Die Idee der Schriftstellerei, die seine Mutter neben ihrem Dasein als Deutschlehrerin verfolgt hatte, war so gar nichts für ihn. Er hatte nur ein ähnlich gutes Sprachverständnis wie seine Mutter und hatte es ihr nach ihrem Tod gleichtun wollen, indem er sein Talent als Lehrer weitergab.

      Inzwischen war er vom Flur ins Wohnzimmer gegangen, sah die leeren Bierflaschen auf dem Couchtisch und erinnerte sich an den Tag zuvor. Er hatte nach dem Büchlein gesucht. Zuletzt im Keller, wo er die Bierkiste gefunden hatte. Und weil das Büchlein nirgends zu finden gewesen war, hatte er sich ein Bier genommen. Und dann noch eins und noch eins und noch eins.

      Martin räumte die Bierflaschen zurück in den Keller, leerte die Wodkaflasche in der Küchenspüle aus und stellte sie in den Flur für den Glasmüll. Dann riss er die Gardinen im Wohnzimmer auf, um Licht hereinzulassen. Staubkörnchen wirbelten durch die Luft als tanzten sie den Tanz der Freiheit. Vor Martin lag der Blick auf die Terrasse und den angrenzenden Garten. Hier musste man dringend Hand anlegen, wollte man – ja was, fragte er sich. Das Haus verkaufen und mit dem Erlös auf Weltreise gehen? Wenn es ihm überhaupt in die Hände fiel. Wen Großmutter wohl im Testament bedacht hatte? Aber selbst, wenn er zu einen Batzen Geld käme – nein, reisen würde ihn nicht mehr reizen, diese Zeit lag hinter ihm.

      Du bist doch noch jung, hörte er seinen Freund Paule sagen. Heute ist man selbst mit achtzig noch nicht alt.

      Aber Martin fühlte sich jetzt alt. Alt und müde. Egal, was die Zahlen sagten.

      Er setzte sich in Großmutters Fernsehsessel und schaute sich um. Früher war es das Tollste gewesen, wenn Großmutter ihm erlaubte, in ihrem Sessel das Sandmännchen zu sehen, auf dem Schoß einen Erdbeermarmeladentoast, noch warm, die Butter zerlaufen, die Marmelade ganz dick obendrauf. Er sah seine Mutter lächeln.

       Erdbeertoast zum Abendessen, na, du wirst verwöhnt!

      Und so schrecklich er die nussbraune Schrankwand auch fand, so furchtbar das Gemälde einer Sonnenblume in dem goldenen Rahmen, so fragwürdig das Belegen des wunderschönen Eichenfußbodens mit den geknüpften Teppichen – all das vermittelte doch ein seltsames Gefühl von, ja, es mochte wohl Heimat sein, was ihn all diese Dinge spüren ließen. Und das, obwohl seine Mutter immer nur vom Übergang gesprochen hatte. Wir wohnen hier nur zum Übergang. Wenn Papa zum Arbeiten nicht mehr so viel in der Weltgeschichte rumfahren muss, bauen wir unser eigenes Haus. Aber dazu war es dann nicht mehr gekommen.

      Martin kam der Gedanke, dass man aus dem Haus etwas machen könnte. Dieser Blick in den Garten war unbezahlbar. Osterglocken und die beiden Zwergmagnolien trauten sich schon hervor, und an vielen Stellen drängte lebhaftes Grün aus der Erde. Welche Farben mochten die Tulpen haben, die sich da gerade aus dem Boden schoben?

       Wetten, dass zuerst eine weiße blüht?

       Um eine Tafel Schokolade, Mama, zuerst wird eine rote blühen.

      Martin ging nach draußen. Er hatte noch keine Sekunde dort gestanden, da holte ihn Frau Wondra ins Hier und Jetzt zurück.

      In ihrem verwilderten Garten stand sie da, sah zu ihm rüber und lächelte ihn an. Trotz Trauerschwarz strahlte sie Lebensfreude aus. Wie ging das, fragte er sich. Zum ersten Mal drängte es ihn, sie zu fragen, warum sie niemals wieder Farbe getragen hatte. Aber ehe er sich versah, war sie wieder hineingegangen. Auch er ging wieder rein, schloss die Terrassentür, verließ das Haus und eilte zum Auto. Er wollte Klarheit. Hoffentlich lag die Karte des Notars noch auf dem Beifahrersitz.

      Er ließ das Auto an und stellte fest, dass das Benzin bald leer war, weshalb er an der Tankstelle in der Dorfhauptstraße hielt. Er steckte den Zapfhahn in den Tank, verankerte ihn und öffnete die Tür auf der Beifahrerseite, auf deren Sitz sein Geldbeutel lag. Er bückte sich danach und stieß sich den Kopf, als er wieder hochkam.

      »Wehgetan?«, fragte eine Frau, die aus einem Auto stieg, das hinter ihm gehalten hatte.

      »Geht schon, danke«, sagte Martin und betrachtete die Frau. Diese schwarz glänzenden Haare hatte er schon einmal gesehen. Auch sie schien ihn erkannt