aber sie öffnete auch nach viermaligem Klingeln nicht. Martin hielt sein Ohr an die Tür, hörte aber nichts. Er ging und schloss Großmutters Haus auf. Es ist mein Haus! Durch den Flur ging er ins Wohnzimmer, zog erst den Vorhang beiseite, schob dann die Terrassentür auf, trat hinaus und sah vom Garten aus zu Frau Wondra hinüber. Auch hinter dem Haus konnte er sie nirgends entdecken. Er würde später noch einmal klingeln. Er ging wieder ins Haus, ließ aber die Terrassentür offenstehen, weil er das Gefühl hatte, Luft täte ihm und dem Haus gut. Dann ging er zurück in den Flur und von dort aus in das andere Zimmer, das an die Terrasse grenzte – das Arbeitszimmer seiner Mutter. Wie lange sie auch schon tot war – für ihn war es noch immer ihr Arbeitszimmer. Hier hatte sie früher gesessen und die Arbeiten ihrer Schüler korrigiert. Mit welcher Freude und Geduld sie die Aufsätze und Diktate gelesen hatte, nie war sie müde geworden, sich zu überlegen, wie sie die Schreibfehler ausmerzen, wie sie ihren Schülern Freude am Deutschunterricht, an der Sprache und ihren Möglichkeiten vermitteln konnte. Sie war eine gute Lehrerin gewesen, Martin hatte das nicht fortsetzen können, obwohl das seinerzeit sein größter Wunsch gewesen war, ein guter Deutschlehrer zu sein.
Die letzten Male hatte er nur einen flüchtigen Blick in das Zimmer geworfen, jetzt sah er sich um; sah hin; schaute auf Mutters Sessel.
Immer, wenn Mutter ein paar Stunden am Schreibtisch gearbeitet hatte, belohnte sie sich mit dem Ausruhen im Sessel. Wobei das Ausruhen für sie im Lesen bestand. Lesen und aus dem Fenster schauen. »Ich verdaue die Worte, mein Schatz«, hatte sie Martin geantwortet, wenn er sie fragte, warum sie so oft nach draußen schaue; dann legte sie die Lektüre auf den Schoß und breitete die Arme aus, damit sich Martin an sie kuscheln konnte.
Lies mir vor.
Das ist ein Buch für Erwachsene.
Lies, ich werde auch mal ein Erwachsener sein.
Er musste sich setzen. Aber nicht auf den Sessel, dessen leeren Anblick er kaum ertragen konnte. Er setzte sich an den Schreibtisch, den Großmutter jahrelang für sich genutzt hatte und räumte alles, was auf ihm lag, auf den Fußboden – eine altmodische Stiftablage, die längst ergraut war, einen Stapel Notizblätter, die hässliche Gummiunterlage in verblasstem Rot, die den antiken Tisch schützen sollte. »Hallo«, sagte er zum Schreibtisch, auf dem er nur das gerahmte Bild seiner Mutter stehen ließ, das sie lachend zeigte als sehr junge Frau. Er nahm an, dass es aus einer Ära stammte, in der er noch nicht gezeugt worden war. Es wunderte ihn nicht, dass Großmutter ein Bild gewählt hatte, das das Leben vor seiner Zeit zeigte.
Melancholie flog ihn an. Bevor sie ihn ganz packen konnte, hörte er das Geräusch eines Schlüssels, der in ein Schloss gesteckt wurde. Und noch bevor er es als ein Türaufschließen erkannte, rief Frau Wondra: »Ich habe dir Apfelkuchen gebacken!« Martin fuhr vom Schreibtisch hoch und ging in den Flur. Frau Wondra streckte ihm einen Teller entgegen.
»Iss, mein Junge«, sagte sie.
Martin bedankte sich und nahm ihr den Teller ab.
Frau Wondra wandte sich um, zog den Schlüssel aus der offen stehenden Haustür und reichte ihn Martin. »Den brauche ich nicht mehr, du bist nun Hüter des Hauses.«
Die Begegnung hatte ihn aufgewühlt. Wie kam Frau Wondra auf die Idee, dass er nun der Hüter des Hauses sei? Lieber wollte er einen Käufer finden und suchte am Nachmittag seine Hausbank auf. Nachdem er am Telefon erklärt hatte, er hätte ein Haus zu verkaufen, ob man das schätzen könne, hatte er direkt einen Termin beim Filialleiter Herrn Richter bekommen.
»Ganz ehrlich, Herr Wachs, ohne das Haus zu schätzen – ich kenne die Gegend –, kann ich Ihnen jetzt schon sagen, dass Sie das Haus im Nu los sind.«
Martin nickte. Herr Richter fuhr fort: »Wenn Sie wollen, kann ich schon morgen mit Interessenten vorbeikommen. Sie kennen sicher die Lage auf dem Immobilienmarkt. Die niedrigen Zinsen. Man wird Ihnen das Haus aus den Händen reißen. Sagen wir um elf?«
In dieser Nacht schlief Martin wie ein Stein, so gut wie schon lange nicht mehr. Kein Wachliegen, kein Rote-Zahlen-Anstarren. Keine Träume. Es war schon fast acht.
Noch immer nach diesem Sportduschgel duftend, das ihm das Gefühl gab, er sei so fit wie ein junger Mensch, saß er an seinem runden Esstisch mit Blick in sein Wohnzimmer und beschmierte sich den dritten Toast. Er war so hungrig. Gerade wollte er nach der Erdbeermarmelade langen, da klingelte das Festnetztelefon. Er hätte den Stecker draußen lassen sollen. Widerwillig stand er auf.
»Ja bitte?«
»Hendrik Müller hier.«
»Hendrik!« Warum nur war er ans Telefon gegangen?
»Herr Wachs, endlich erreiche ich Sie. Sie sind ja leider krank geworden – ich hoffe, es geht Ihnen wieder besser – und ich dachte, ich frag mal nach, was Sie diese drei Schultage noch mit uns durchgesprochen hätten. Sie wissen doch, dass ich ein gutes Abitur brauche.«
»Hendrik!«
»Ja?«
»Sie schaffen das.«
»Aber …«
»Nichts aber. Sie werden das beste Abitur Ihres Jahrgangs machen, und das wissen Sie.«
»Sie verstehen nicht.«
»Sie machen sich umsonst Sorgen. Sie haben doch nur Bestnoten. In allen Fächern.«
»Ich darf mir aber keinen Patzer erlauben. Ohne Stipendium bin ich aufgeschmissen, und ich wollte ja auch nur wissen, was Sie noch durchgenommen hätten, und ob ich vielleicht noch was Bestimmtes nachlesen soll?«
»Nein, nein.«
»Gut, dann gehe ich alles noch mal durch. Darf ich Sie anrufen, wenn ich Fragen habe?«
Nach einem brummigen »Mm« legte Martin den Hörer auf.
Sie verstehen nicht.
Doch, er verstand Hendrik. Natürlich war es ihm in all den Jahren, die er ihn unterrichtet hatte, nicht entgangen, dass ihm gute Noten wichtiger waren als anderen Schülern. Und er ahnte auch den Grund dafür.
Martin räumte den Frühstückstisch ab und fuhr zum Haus seiner Großmutter.
Schon von Weitem sah er Frau Wondra, die in Begleitung eines Herrn auf ihn zukam.
»Das ist Herr Schmidt von der Nachbarschaftshilfe, er geht mit mir einkaufen«, sagte sie, als sie auf Augenhöhe mit Martin war.
»Der Kuchen war lecker«, sagte Martin.
»Es sind meine Zutaten«, antwortete Frau Wondra.
Martin ging wortlos weiter, öffnete die Haustür zu Großmutters Haus, betrat es, schloss die Tür hinter sich und fragte sich, was Frau Wondra gemeint hatte. Meine Zutaten. Die Türglocke unterbrach seine Gedanken. Das musste Herr Richter sein mit den Interessenten. Er öffnete.
»Einen wunderschönen guten Tag«, sagte Herr Richter. Hinter ihm stand eine sechsköpfige Familie: Vater, Mutter und vier Kinder vom Grundschulalter bis Teenager.
»Am besten, wir gehen gleich außen herum in den Garten«, sagte Martin und trat vor die Tür. Er konnte sich nicht vorstellen, so viele wildfremde Menschen gleichzeitig unkontrolliert durch das Haus trampeln zu lassen.
»Schau mal Timmy, wie groß der Garten ist«, sagte der Vater. »Wenn wir die Büsche da wegmachen, ist Platz für dein Tor.«
Die Büsche! Sprach er etwa von den Forsythien oder gar dem wunderschönen Fliederbaum? Martin stellte sich etwas abseits. Herr Richter gesellte sich zu ihm. »Die Nachfrage bestimmt das Angebot. Wenn ich das Haus für Sie verkaufe, werden wir beide daran verdienen.«
»Sie müssen es doch noch schätzen.«
War dieser Mann kompetent? Martin sah ihn kritisch an.
»Natürlich können wir die offizielle Schätzung durchführen. Ich weiß, normalerweise macht man das vorher. Ich hatte gestern nur den Eindruck, Sie hätten es eilig mit dem Verkauf, weshalb ich dachte,