er sich nicht mehr rechtfertigen. Er stellte sich vor, wie er von nun an ohne Verpflichtungen ein Buch nach dem anderen lesen könnte, am Nachmittag beim Kaffee, am Abend bei einem Glas Rotwein. Trotzdem war ihm jetzt zum ersten Mal seit Langem zum Reden zumute. Paule fiel ihm ein, der einzige Freund, den er hatte. Ja, ich gehe jetzt zu ihm. Paule betrieb eine Kneipe, in der sich nur allzu gerne schwänzende Schüler trafen, doch Martin kannte ihn seit vielen Jahren und frühstückte jeden Sonntag bei ihm. Jetzt aber war es schon nach drei Uhr, die Gefahr also gering, einen Schüler zu treffen.
Mit einem Handtuch um die Hüften verließ er das Bad und holte sich im Schlafzimmer Boxershorts, Socken, Jeans und ein blaues Poloshirt aus dem Kleiderschrank. Unten im Flur schnappte er die leichte hellbraune Cordjacke vom Garderobenhaken, nahm Smartphone und Schlüsselbund vom Flurschränkchen und ging. Die Türklinke schon in der Hand, machte er wieder kehrt und schaltete den Anrufbeantworter aus. Dann machte er sich auf den Weg. Sein Magen knurrte.
»Und wie groß ist das Haus?«, fragte Paule.
»Groß«, sagte Martin und machte sich über den Wurstsalat und die Bratkartoffeln her. Bratkartoffeln konnte er jeden Tag essen. »Ich glaube einhundertsechzig Quadratmeter Wohnfläche.«
»Wow. Und was willst du da?«
Lesen und meine Ruhe haben, dachte Martin.
»Auf deine alten Tage eine Familie gründen und ein Trampolin in den Garten stellen?«, fragte Paule.
»Sicher nicht.«
Aus dem Biergarten rief jemand: »Zahlen bitte«. Paule ging und Martin saß wieder alleine in der Kneipe. Das war ihm lieber, als mit anderen Gästen um einen Platz an der Sonne zu konkurrieren. Hier hatte er seine Ruhe. Herrlich. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Es blieb haften und Paule, der wieder hereingekommen war, bezog es auf das Essen. »Hat wohl geschmeckt?«
»Ja«, sagte Martin.
Paule räumte den Teller ab, auf dem nur noch ein Salatblatt lag, sagte: »Wir können ja eine Männer-WG aufmachen«, und brachte das Geschirr in die Küche.
Martin wusste, dass Paule das nicht ernst meinte. Er hasste WGs. Paule lebte genauso allein wie er, auch wenn er weit öfter Damenbesuch hatte. Er war das, was man einen Frauenheld nannte, zufrieden mit seiner Ungebundenheit, wie er Martin einmal erzählte und glücklich darüber, ein Kind in die Welt gesetzt zu haben. Damit was bleibt, wenn ich gehe. Ein Junge, der in Norddeutschland bei seiner Mutter und einem Stiefvater lebte. Der es gut hatte, besser als er es bei ihm hätte. Ab und an skypten sie, aber nur selten trafen sie sich. »Die jungen Leute haben ja keine Zeit«, sagte Paule.
Damit etwas bleibt, wenn ich gehe.
Was bliebe von ihm? Höchstens Worte. Wenn er sie aufschrieb. Manchmal fielen ihm besondere ein. Aber wohin damit? Das Büchlein, in das er sie gerne eingetragen hätte, war weg. Auch ein unschuldiger Stoffaffe hatte es nicht retten können.
Geblieben war die Erinnerung.
Ich habe eine Idee, Mama.
Ja, Martin?
Wir machen einen Wörterladen auf.
Wie geht das?
Wir verkaufen unsere Worte.
Du hast recht, sie sind wertvoll.
»Magst noch was trinken?«
Martin leerte das Wasserglas, sagte: »Nein danke«, bezahlte und ging.
»Bis die Tage«, rief Paule ihm hinterher.
Die Leichtigkeit, die Martin spürte, wenn er daran dachte, nur noch seinem eigenen Rhythmus zu folgen, verkehrte sich in Schwermut, weil ihm auffiel, dass es niemanden gab, der sich um ihn sorgte. Außer vielleicht die Schulsekretärin, Frau Schlott, die ihn zumindest anrief, wenn er nicht wie gewohnt um sieben Uhr das Lehrerzimmer betrat. Wenn er jetzt tot umfiele, wer käme zu seiner Beerdigung? Ihm fielen drei Menschen ein: Paule, Frau Schlott und eventuell Hendrik. Da konnte man ja nicht einmal von Trauergemeinde reden. In der Stimmung, in der er nun war, konnte er sich gut um die Beisetzung seiner Großmutter kümmern. Sie wollte verbrannt und ihre Asche sollte anonym verstreut werden. Das ganze Prozedere, finanzielle Mittel und nötige Unterschriften hatte sie bei Dr. Deinig hinterlegt. Martin würde damit nicht viel zu tun haben, und er wollte bestimmt nicht dabei sein. Großmutter war nach dem Unfalltod von Martins Eltern vom Glauben abgefallen. Vielleicht wäre es einfacher gewesen, sie hätte sich an einen Gott klammern können. Vielleicht hätte dieser Gott ihr zugeflüstert, dass ihre Tochter in Martin weiterlebte. Vielleicht wäre das Aufwachsen bei ihr dann von Wärme durchzogen gewesen. So war es nicht gekommen. Und auch Martin glaubte an keinen Gott. Religion. Das war etwas für schwache Menschen. Für Menschen, die ihr Schicksal nicht ertragen wollten oder konnten.
Vor dem Haus angekommen, grüßte ihn ein Nachbar. Martin hätte nicht einmal sagen können, in welchem Stockwerk dieser Mann wohnte, geschweige denn, wie er hieß. Stadtleben bedeutete Anonymität. Er betrat seine eigenen vier Wände, hängte die Jacke an den Haken, suchte die Unterlagen des Notars heraus und führte ein paar Telefonate, bei denen es um Großmutters letzten Willen bezüglich der Beisetzung ging. Dann zog er den Stecker aus dem Telefon und setzte sich vor den Fernseher. Es gehörte zu seinen Gewohnheiten, die Sieben-Uhr-Nachrichten im ZDF zu schauen. Bei Gewohnheiten sollte niemand unterbrochen werden. Immerhin gab es Hendrik auf dem Anrufbeantworter. Und der könnte wieder anrufen.
Die Nachrichten gaben nicht viel her. Ein Busunglück in Spanien, irgendwelche Fußballergebnisse aus der zweiten Liga, dabei interessierte ihn nicht einmal die erste und eine Wettervorhersage, die von freundlichen Aussichten sprach. War es nicht jeden Abend das Gleiche? Ein Unglück, Fußball und das Wetter. Was sich änderte, waren die Unglücksorte, die Spieler, die Temperaturen. Mürrisch schnappte er die Fernbedienung, schaltete den Fernseher ab und fand, dass der Punkt an ihn ging.
Drittes Kapitel
Der Panther im Haus
Der Dienstag war vier Stunden alt und Martin wälzte sich wach im Bett. Um fünf gab er auf. Es wollte ihm nicht gelingen, auszuschlafen. Um kurz vor sechs verließ er die Wohnung und ging zum Bäcker um die Ecke. Ein warmer Duft nach Süße empfing ihn.
»Was darf’s sein?«, fragte die Frau hinter der Theke. Zwar lächelte sie, aber mit der Bäckertüte in der einen und einer Zange für Gebäck in der anderen Hand signalisierte sie Martin trotzdem, dass er sich beeilen solle.
Martin zögerte. Die Auswahl war so groß. Er bestellte schließlich einen Mohnstreusel und eine Laugenbrezel.
Zu Hause gab er einen Löffel Kaffeepulver mehr als sonst in den Filter. Das Aroma passte wunderbar zu dem Gebäck. Während der Kaffee durch den Filter in die Tasse tropfte, breitete er die Tageszeitung auf dem Esstisch aus. Danach deckte er sich den Tisch. Es war irgendwie wie in den Ferien. Aber dennoch fühlte es sich anders an. Martin musste an den Panther von Rilke denken.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt.
Noch nie hatte er sich gefühlt wie jetzt. Die Zukunft erschien ihm auf einmal wie ein großes Loch.
Als er zehn Jahre alt gewesen war, starben seine Eltern, und von einem auf den anderen Tag war alles anders gewesen. Als er achtundzwanzig Jahre alt gewesen war, hatte ihn seine erste große Liebe Angelika verlassen. Und wieder war von einem auf den anderen Tag alles anders gewesen. Nun war seine letzte Familienangehörige seiner ohnehin kleinen Familie gestorben, und das »Anders« war ein neues Anders. Ein so noch nie gefühltes Anders. Er fühlte sich frei und einsam zugleich, das fand er mehr als seltsam.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben eine Welt.
Er biss in den Mohnstreusel. Der Zuckerguss klebte an seinen Fingern. Er leckte ihn ab. Eine Welt.
Eine Welt. Seine Welt.
Auf einmal fragte er sich, wie viel Zeit ihm eigentlich noch blieb. Der Gedanke, dass es