»Kennen wir uns?«
»Neulich morgen im Hospiz, wir…«
… sind zusammengestoßen, dachte Martin, ja, da fiel es ihm wieder ein. »Ach ja«, sagte er und spürte den Drang, schnell von hier wegzukommen.
»Wie geht es Ihnen?«
»Gut, danke«, sagte er und fragte sich sogleich, ob das eine passende Antwort gewesen war, wenn ein Familienangehöriger verstorben war. Schon bemerkte er ihren durchdringenden Blick, wie neulich nachts.
Brauchen Sie Hilfe?
Nein, danke, ich möchte gehen.
»Ich mochte Ihre Großmutter, sie war irgendwie eine Dame von Welt.«
Martin wusste nicht, was er sagen sollte und hob den Geldbeutel zum Zeichen, dass er zum Bezahlen gehen wollte. Als er zurückkam, war auch sie fertig mit Tanken. »Alles Gute«, sagte sie. Martin hatte den Eindruck, sie wollte noch mehr sagen, aber da fuhr schon der nächste Wagen hinter ihnen die Zapfsäule an, sie standen im Weg. Erleichtert, keine Konversation betreiben zu müssen, setzte er sich in seinen Wagen, fuhr los und ertappte sich dabei, wie er versuchte, im Rückspiegel nochmals einen Blick auf diese schwarzen Haare zu erhaschen.
Zehn Minuten fuhr er durch ein bewaldetes Gebiet, dann erreichte er seine Stadt. Er kannte die Straße, die er auf der Visitenkarte gelesen hatte: Fliederstraße. Hier standen die schönsten Altbauten der Gegend. Direkt vor dem imposanten Gebäude mit der Hausnummer dreiundzwanzig war ein Parkplatz frei. Gebührenpflichtig. Normalerweise dachte er immer daran, ein paar Parkmünzen parat zu haben, aber heute hatte er kein Kleingeld dabei. Er schüttelte den Kopf über sich selbst.
Eine Sekretärin, deren Augenpartie hinter einer riesigen Brille verschwand, musterte ihn etwas abschätzig, wie er fand, wurde aber freundlicher, als er seinen Namen genannt hatte. Dr. Deinig sei zu Mittag, er könne gerne warten. »Ich hätte mir wohl einen Termin holen sollen«, sprach er die Sekretärin nach einer Viertelstunde an.
»Normalerweise ja«, sagte sie und sah kurz vom Computerbildschirm auf. Das Aber, nach dem der Satz klang, führte sie nicht weiter aus. »Möchten Sie einen Kaffee?«, fragte sie.
»Ja, gerne«, sagte Martin lauter, als er wollte.
Als Dr. Deinig schließlich vom Mittagstisch kam, rumorte es schon wieder in Martins Bauch. Die sportliche Erscheinung des Notars erinnerte ihn daran, dass er ab und zu daran dachte, sich besser zu ernähren. Leichte Kost, mehr Obst und Gemüse, statt Bratkartoffeln mit viel Speck.
»Herr Wachs, wie schön!«
Martin verstand nicht. Er hatte sich nicht vorgestellt.
Eine gute halbe Stunde später trat er wieder aus dem Altbaugebäude heraus. Ihm schwindelte. Der Notar hatte ihn nach der Testamentsverlesung angesehen, als müsse Martin ihm persönlich Danke sagen. Wohl auch, weil er darüber hinwegsah, das Testament vor der Beisetzung zu verlesen. Scheinbar waren der Notar und Großmutter alte Bekannte gewesen. Dr. Deinigs Gesichtsausdruck hatte ständig gewechselt zwischen Trauer und dem Strahlen, das man um die Augen hat, wenn man einem anderen Menschen eine gute Nachricht überbringen darf.
Martin ging zu seinem Auto. Im Näherkommen sah er eine Politesse einen Strafzettel unter das Wischblatt klemmen.
Das geschah ihm recht.
Er erbte siebenundneunzigtausend Euro und Großmutters Haus. Und jetzt? Sie lag noch nicht einmal unter der Erde, da konnte er doch nicht darüber nachdenken, was er nun mit dem Erbe anfangen sollte. Aber Denken war nichts, das sich abstellen ließ. Sollte er das Haus verkaufen? Es war alt, das Innenleben gehörte runderneuert, vielleicht sogar das Dach neu gedeckt – der Wert des Anwesens lag eher im Grundstück. Die Preise hier in Süddeutschland waren kontinuierlich hoch. Was könnte er verlangen? Wie lange könnte er mit dem Geld auskommen, ohne – er traute sich kaum, das zu Ende zu denken – ohne sich als Lehrer abmühen zu müssen?
Den Wagen startete er mit dem Gefühl, er würde in ein neues Leben starten.
Wherever I lay my hat, that’s my home, drang es aus dem Autoradio in seine Gedanken. Wo war sein home? Er schaltete das Radio wieder aus.
Seine Maisonettewohnung in der Stadt war sehr schön. Hell und freundlich, wie es in den Wohnungsanzeigen immer hieß, zentral gelegen, aber teuer. Und groß. Ausgelegt für mindestens zwei Menschen, wenn nicht gar für eine Familie mit zwei Kindern. Die Zeit mit Maria tauchte aus dem Nebel auf. Zehn Jahre waren sie zusammen gewesen. Und dann war Maria von einem auf den anderen Tag gegangen. Weil er keine Wurzeln schlagen wollte, indem er mit ihr Kinder in die Welt setzte. Weil er keine Familie wollte. Weil er unter den Folgen seiner Kindheit litt. Maria gab seiner Großmutter die Schuld an seiner Unfähigkeit, Ja zu einer eigenen Familie zu sagen und reichte die Scheidung ein. Soweit er wusste, hatte sie inzwischen drei Kinder. Und er? Hatte nie an das große Glück geglaubt. Jetzt hatte er gar keine Familie mehr. Nicht einmal entfernte Verwandte. Er hatte nur dieses Haus. Und dann ermahnte er sich, zückte wie so oft seinen imaginären Rotstift und strich das Wort nur aus dem Satz.
Gedankenversunken fuhr er automatisch zu seiner Stadtwohnung, stellte seinen Wagen in seiner Garage ab und betrat das Treppenhaus. Defekt stand an der Fahrstuhltür. Martin seufzte. Sechzig Stufen bis in den fünften Stock lagen vor ihm.
Etwas aus der Puste betrat er seine Wohnung. Sofort fiel ihm der blinkende Anrufbeantworter auf. Ein ungewöhnlicher Anblick, es mochte Monate her sein, dass er das letzte Mal geblinkt hatte. Martin hängte seine Jacke an den Garderobenständer und drückte auf Wiedergabe.
»Hallo Herr Wachs, hier spricht Hendrik Müller. Die Schulsekretärin sagte, Sie seien krank, aber ich hätte noch Fragen, weil doch am sechsten April das schriftliche Deutschabi ist, und ich die Osterferien zum Lernen nutzen wollte. Können Sie mich bitte zurückrufen? Ich brauche wirklich dringend Ihre Hilfe! Meine Nummer ist …«
Auf die Schnelle fand Martin nichts zum Schreiben. Der Anrufbeantworter piepste. Bevor er ihn erneut abhörte, legte er sich Stift und Papier zurecht.
Danach starrte er auf die Telefonnummer, konnte sich aber trotzdem nicht vorstellen, Hendrik anzurufen, obwohl er ihn mochte. Er gehörte nicht zu jenen, denen alles zuflog. Hendrik lernte, weil er ein klares Ziel vor Augen hatte. Es waren Schüler wie er, die Martin trotz der Desillusionierung, die ihm seit Jahren aufs Gemüt schlug, wie die immer schlechter werdenden Weltnachrichten in der Tagespresse, weiter unterrichten ließen. Gäbe es sie nicht, gäbe es ihn als Lehrer schon längst nicht mehr. Doch es gab sie immer wieder – diese Hendrik Müllers, die sich selbst und der Welt etwas beweisen wollten und etwas suchten, womit sie sich intensiv auseinandersetzen konnten.
Er legte die Nummer beiseite und kratzte sich am Kopf. Einzelne Haarsträhnen kitzelten seine Stirn. Normalerweise wusch er die Haare jeden Morgen unter der Dusche. Aber seit dem Anruf aus dem Hospiz hatte er gar nicht mehr geduscht. Er schnupperte unter den Achseln, verzog das Gesicht, ging ins Bad und duschte länger als sonst.
Als er das Wasser abstellte, dampfte es im fensterlosen Bad. Der Spiegel war beschlagen, er wischte ihn mit einem Handtuch frei. Aber rasieren tue ich mich trotzdem noch nicht, dachte er. Die Bartstoppeln gefielen ihm. Er fand, sie verliehen ihm etwas Verwegenes, sahen nach Umbruch aus. Ja, sein Spiegelbild bestätigte ihm, dass etwas in ihm heranreifte. »Wer bist du?«, fragte er sich. »Was willst du?« In wenigen Tagen wurde er sechsundfünfzig Jahre alt. Na und?, sagte er zu seinem Ebenbild, das schon wieder hinter einer feuchten Wand verschwand. Mit einem Mal verspürte er den Drang, mit jemandem zu reden. Über sein Erbe und die Frage, was er tun solle. Über die Gedanken, die das Erbe mit sich brachte, Gedanken, die ihn überforderten, weil sie ihn aufforderten, einen anderen Weg einzuschlagen. Das Haus verkaufen oder vermieten, um damit die hohe Miete für die Maisonettewohnung zu zahlen. Denn wenn er einen Wunsch frei hätte, wäre die Antwort klar: Nur noch Schüler wie Hendrik Müller unterrichten zu dürfen.
Er hatte auch selbst ein wenig gespart. Schon in jungen Jahren hatte er damit begonnen. Weil man das so machte. Bausparvertrag. Für später. Für das Eigenheim, die Frau, die Kinder, zu denen er