Jörg Weigand

Die Welten des Jörg Weigand


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bei uns bekommen hat, und vor allem bei ihrer Wirkung auf Männer könnte die doch verlangen, was sie will.«

      »Vorsicht, da …« Melchior versuchte offensichtlich, seinen Vorgesetzten auf meine Anwesenheit aufmerksam zu machen. Doch dieser achtete nicht darauf.

      »Haben Sie an Paragraph 17 c gedacht?«

      »Ja, Herr Sommer.«

      »Na, und?«

      »Ich habe sie informiert, dass unser gesamtes Programm durch einen technischen Defekt unbrauchbar geworden ist und dass wir die nächsten zwölf Monate dazu benützen müssen, das Programm neu zu erstellen.«

      Aber das stimmt doch gar nicht, wollte ich rufen, besann mich aber. Hatte nicht Melchior gerade noch fröhlich verkündet, dass wir mit Beginn Januar mit der Simulation beginnen würden? Simulation?

      In meinem Magen krampfte sich plötzlich alles zusammen. Die Angst griff nach mir.

      Bellinda!

      Wo war sie? Sofort musste ich sie darüber informieren; dass das alles gar nicht stimmte, was Melchior ihr erzählt hatte. Dass alles Lüge war …

      Ohne auf Sommers erstaunte Blicke zu achten, drückte ich mich an ihm vorbei und stürzte hinaus.

      7

      Ich fand sie in der Garderobe. Mit der Nagelschere hatte sie sich der Länge nach die Pulsadern aufgeschnitten. Sie wusste, wie man das sachgemäß anstellen musste, denn erst kürzlich hatte sie vor der Kamera eine solche Szene spielen müssen.

      Sie saß vor dem Spiegeltisch, ihr Kopf war nach vorne gefallen, die kastanienbraunen Haare schwammen im blutigen Wasser des Waschbeckens, in das ihre Hände hineinhingen.

      Ich griff nach dem Puls. Nichts.

      Ich alarmierte unseren Hausarzt. Zu spät.

      Am Boden fand ich ein Blatt Papier. Sie hatte nur wenige Sätze darauf geschrieben.

      Mark.

      Sei mir nicht böse. Aber noch ein ganzes Jahr kann ich das nicht ertragen. Bitte, versteh mich. Ich hatte gehofft, doch das ist zu viel. Ich bin auch nicht mehr Beate Michalowski.

      Bellinda

      Ich war wie betäubt.

      Kein Wort der Liebe. Keine Bemerkung, die uns beide betraf. Ihr Beruf war ihr doch über alles gegangen, und sie war so bitter enttäuscht worden.

      Ich dachte an Sommers Erwähnung der vertraulichen Dienstanweisung, die ich als kleiner Subalterner nicht kannte. Und ich dachte an Melchiors fröhliches Gesicht, als er mir die Simulation für Januar angekündigt hatte.

      Ja, jetzt konnten wir Bellinda simulieren.

      Ich stürzte hinaus, ich hielt es nicht mehr aus in diesem Raum, in diesem Gebäude, unter diesen Menschen.

      Draußen war ein klarer Wintertag. Gegenüber dem Fernsehgebäude errichteten Arbeiter eine riesige Anschlagwand, die Bellinda, meine Bellinda, zeigte. In übergroßen Lettern schrie es mir entgegen:

      SENSATION!

      IM NEUEN JAHR

      BELLINDA SUPERSTAR

      DIE GROSSE ENTDECKUNG

      DER KOMMENDEN JAHRE!

      Sie hatte erreicht, wovon sie geträumt hatte: Sie war Bellinda Superstar …

      Immer am Ball (1981)

      27. Mai

      Heute Vormittag kam Order von der World Wide TV-News: auf dem schnellsten Wege nach Indien. Da ich die vergangenen Tage vor der kanadischen Küste das Abschlachten der allerletzten Robben gedreht habe (tolle Bilder; die neue 4-DX-Video-Kamera vermittelt den Eindruck, als spritze einem das Blut direkt ins Gesicht), bin ich nicht auf dem Laufenden. Nach allem, was ich bisher weiß, scheinen in Bangladesch wieder eine Menge Menschen am Verhungern zu sein. Eigentlich scheußlich, solche Verhungernden, aber ich habe das schon einmal mitgemacht. Man gewöhnt sich an alles; nichts als Routine.

      WW-TV hat mehrere aktuelle Berichte und ein Fünfundvierzig-Minuten-Feature bestellt. Feine Sache, damit ist eine Menge Geld zu machen. Vor der Abreise muss ich aber noch mit Wolf Maier von der WW-TV sprechen, diesmal sollen die mir nicht die Butter vom Brot nehmen; die ausländischen Verwertungsrechte müssen bei mir bleiben. Besonders da ich mir vorstelle, das Feature diesmal um den Themenkreis »Mutter – Kind« herumzubauen. Wenn so ein halbverhungertes Kleines mit brauner Haut über dem aufgequollenen Bauch an den schlaffen Brüsten der auch schon fast toten Mutter kaut – das sind Bilder, die den Zuschauer ansprechen. Und so was lässt sich auch spielend international vermarkten.

      28. Mai

      Vor der Abreise.

      Gerade war ich bei Maier. Alles geregelt. Zuerst wollten die bei WW-TV einen Aufstand veranstalten, aber dann haben sie doch klein beigegeben. Besonders als ich ihnen das Telex unter die Nase hielt, auf dem International Sensation mich aufforderte, für sie in Bangladesch zu drehen. Gut, dass ich Ted bei IS-TV kenne; irgendwann werde ich ihm den kleinen Freundschaftsdienst mit dem getürkten Telex schon vergelten können.

      Habe die Kamera noch einmal durchgecheckt. Alles okay. Nur das Zoom wollte zuerst nicht recht; irgendein Schmutzpartikelchen muss sich an der Schiene festgesetzt haben. Mit dem Staubpinsel war schließlich auch das in Ordnung zu bringen. Seitdem die TV-Anstalten sparen und nur noch Einmann-Berichterstatter bezahlen wollen, muss ich besonders sorgfältig darauf achten, dass mit der Kamera immer alles in Ordnung ist.

      Früher, als ich gelernt habe, bestand ein Team immerhin aus vier Leuten: Kameramann, Kameraassi, Toningenieur und (eventuell) Beleuchter. Dazu kam dann noch der Reporter, der oft genug abseits vom Team seine Recherchen anstellte. Seit zehn Jahren, also seit etwa 1985, mit der Einführung der ersten Allroundkameraausrüstung mit Einmannbedienung, ist das alles überflüssig geworden. Nun bin ich mit meiner Kamera allein vor Ort: Als Reporter und Kameramann in einer Person; das eingebaute Richtmikro auf Schwenkachse sowie der automatische Lichtausgleich, der selbst bei schlechtesten Lichtverhältnissen das Drehen noch erlaubt, haben auch die restlichen Teammitglieder überflüssig gemacht. Manchmal stört mich freilich das Reportagemikro direkt vor meiner Nase, aber da die neue 4-DX-Video praktisch selbsttätig arbeitet, sobald ich sie auf ein lohnendes Motiv gerichtet habe, kann ich mich doch sehr auf den Text konzentrieren, den ich auf das fertig geschnittene Material spreche, wie ich es auf dem (leider etwas zu kleinen) Monitor sehe.

      30. Mai

      Gestern kam ich nicht dazu, wenigstens einige Eindrücke festzuhalten.

      Der Flug verlief ruhig, der Service an Bord der Maschine war, wie immer in den letzten Jahren, miserabel. Der Zoll in Dakka machte einige Schwierigkeiten, aber auch daran habe ich mich schon gewöhnt. Bis ich dann in meinem Hotel – dem »Metropol« – war, ging gerade die Sonne unter. Nach einem schnellen Imbiss und einem erneuten Checking der Kamera, die (toi, toi, toi) die Reise gut überstanden hat, blieb gerade noch Zeit für einen Drink an der Bar. Dort traf ich dann einige Kollegen, die bereits seit Tagen hier sind, darunter José Amadillo von Brazil Inter und Hajime Suzuma von Nippon Standard TV sowie Terry Marx, der für eine Privatfirma an einer Dokumentation über »Katastrophen 1995« arbeitet. José und Terry kenne ich von mehreren Einsätzen her, unter anderem aus Zentralafrika von der großen Flut und von dem Erdbeben vor zwei Jahren auf den Ryukyu-Inseln. Hajime Suzuma war mir bisher nur vom Hörensagen bekannt; er gilt als scharfer Hund, der überall hart am Ball bleibt. Alle drei Konkurrenten, gewiss, aber auch prima Kumpels.

      Heute habe ich als Erstes einmal die Stadt in Augenschein genommen. Sie ist total überfüllt, da die Bevölkerung vom Lande hereinströmt in der Hoffnung, hier etwas zu essen zu bekommen. Doch da die Stadtverwaltung Rationierungsbons ausgegeben hat, die nur für alteingesessene Stadtbewohner