Jörg Weigand

Die Welten des Jörg Weigand


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      Der kleine Vogel hüpfte immer um den Pfeiler der Turbobahn herum und pickte im Staub. Das Getöse der Bahn über ihm wie auch die vielfältigen Straßengeräusche schienen ihn nicht zu stören. An dem graubraunen Gefieder erkannte der alte Mann auf der anderen Straßenseite, dass es sich um einen Spatz handelte. Nun war er zweiundneunzig Jahre alt, der Greis, und hatte seit Jahren keinen Spatzen mehr gesehen. Er hatte sich freilich noch nie viele Gedanken darüber gemacht, weswegen es immer weniger Vögel gab. Seit einigen Jahren ging er nicht mehr oft auf die Straße; der Lärm und das Gequirle der Menschenmassen stießen ihn ab. Nur manchmal, wenn er es in seinem Zimmerchen gar nicht mehr aushielt, traute er sich für einige Minuten außer Haus – um danach schleunigst wieder in die Geborgenheit seiner vier Wände zu fliehen.

      Heute hatte er gerade die Hektik der Durchgangsstraße verlassen wollen, um auf seinem Zimmer die Nachmittagsnachrichten anzusehen, da erblickte er den Vogel.

      Der Spatz schien im Straßendreck eine Menge Pickenswertes zu entdecken; denn er kam gar nicht zur Ruhe. Das Köpfchen ging auf und ab, stocherte den Schnabel in den Untergrund; dann ein Hüpfen seitwärts oder nach vorn, und wieder geriet das Köpfchen in Bewegung.

      Diese stete Bewegung war es wohl auch, die einige Jugendliche auf den Vogel aufmerksam machte. Die etwa Vierzehnjährigen schlenderten langsam näher und hielten sich dabei im Sichtschatten des mächtigen Pfeilers der Turbobahn. Dabei sprachen sie miteinander, doch das Brausen des Straßenverkehrs war so intensiv, dass der alte Mann auf der anderen Seite der Straße nichts verstehen konnte. Plötzlich bückte sich der eine Jugendliche, für sein Alter hochgewachsen und von Mutter Natur mit einem wirren schwarzen Haarschopf bedacht, griff in den Staub und warf – eine Bewegung ging in die andere über – einen Steinbrocken auf den Vogel, der arglos herumpickte. Die vier Kumpane des Schwarzhaarigen taten es ihm nach, und im Nu prasselte ein Steinhagel auf das kleine Tier nieder.

      Der erste Brocken musste bereits getroffen haben, denn als der alte Mann, von den vorbeifahrenden Wagen immer wieder irritiert, genauer hinschaute, lag der Spatz bewegungslos am Boden. Der Alte erkannte in der jugendlichen Gruppe nun auch ein Mädchen, das sich bückte und den Vogel aufhob. Unter der Berührung der menschlichen Hand bewegte der Spatz schwach seine Flügel.

      »Lasst den Vogel in Ruhe!«, schrie der Greis mit zitternder, vor Erregung heiserer Stimme, konnte aber den Straßenlärm nicht übertönen. Doch drüben, unter der Turbobahn, bemerkte einer aus dem Augenwinkel das Gestikulieren des alten Mannes und machte die anderen darauf aufmerksam. Ein fast verachtungsvoller Blick herüber, dann wandten die fünf ihre Aufmerksamkeit wieder dem Tier in der Mädchenhand zu.

      Ehe sich der Alte versah, befand er sich mitten auf der Fahrbahn des in dieser Fahrtrichtung dreispurigen Boulevards, getrieben von einer jäh aufschießenden Erregung. Er verursachte Notbremsungen und musste Verwünschungen anhören, doch er kam unbeschadet auf den Mittelstreifen unter der Turbobahn.

      Die Jugendlichen gingen ihm nun langsam entgegen, das Mädchen hielt immer noch den Vogel.

      »Na, Opa, was ist denn los?«, fragte der Schwarzhaarige grinsend.

      Von dem waghalsigen Abenteuer der Fahrbahnüberquerung war der Alte außer Atem geraten.

      »Lasst … den … Vogel … in Ruhe!«, stieß er hervor. Und dann, nachdem er tief Luft geholt hatte: »Ihr solltet euch schämen, mit Steinen nach dem armen Tier zu werfen und es zu verletzen!«

      »Ach, reg dich ab!«, sagte ein anderer Bursche. »Was ist schon an so einem Ding dran!«

      Dem Alten schossen wirre Erinnerungen durch den Kopf: an Nachmittage auf sonnenhellen Wiesen, während er den trillernden Lerchen lauschte; an Winternachmittage, wo er den Meisen an den Futterringen zugesehen hatte; an die zeternde und sich balgende Spatzenschar im Hinterhof seines Wohnblocks, wie er sie noch vor Jahren von seinem Fenster aus beobachten konnte. Nun gab es nichts mehr dergleichen.

      Aber – wie sollte er diesen halben Kindern mit dem Blick von Erwachsenen dies alles deutlich machen, ihnen das Besondere an diesem einen Spatzen erklären? Sie kannten nur eine Welt voller Autos und Turbobahnen. Was bedeutete ihnen eine Wiese, ein Wald? Und was so ein Spatz?

      Der Alte streckte die Hand nach dem Vogel aus, der ihn mit großen Augen ansah. Flehend ansah, so war sein Eindruck.

      »Gebt ihn mir«, bat der Greis. »Ich werde ihn gesund pflegen.«

      »Bah, so ein Quatsch!«, lachte da der Schwarzhaarige hellauf, die beiden bisher Stummen grienten.

      »Aus welchem Jahrhundert stammst du denn, Opa?«

      Er nahm dem Mädchen den Vogel aus der Hand. Seine Finger schlossen sich so fest um das Gefieder, dass der Greis selbst den Druck zu spüren glaubte.

      Mit einer heftigen Bewegung schleuderte der Schwarzhaarige den Vogel vor sich auf den Boden. Das geschah so schnell, dass der alte Mann keine Zeit zur Reaktion hatte. Der Fuß des Jugendlichen schnellte vor und trat auf den Vogel, drehte sich auf dem Absatz: vor und zurück.

      »Da siehst du, was von deinem Vogel übrigbleibt!«

      Der alte Mann war zu Boden gesunken; er kniete vor den Überresten des Spatzes. Seine tränenverschleierten Augen nahmen nur undeutlich die Drähte, Schrauben und Blechteile wahr, die aus dem aufgeplatzten Tierkörper quollen.

      Hinter ihm entfernten sich lachend die Jugendlichen.

      Vater der Zukunft (1980)

      Vorbemerkung des Herausgebers

      Vieles aus der frühzivilisatorischen Geschichte der Menschheit, insbesondere vor Einführung der neuen Datierung (n. D.) im Gefolge der Gründung des »Verbundes Besiedelter Welten« vor nunmehr fast 1079 Jahren, liegt im Dunkeln. Zahlreiche Unterlagen: Dokumente, Register, Statistiken, Filme und Fotos sind selbst aus den zentralen Archiven verschwunden, in den Kriegswirren während der Einigungsbestrebungen zerstört oder durch Unachtsamkeit dem Verderb anheimgegeben worden. Dies ist bekannt und oftmals nicht nur in wissenschaftlichen Fachblättern wie der »Neuen Historiographischen Zeitschrift« oder der »Acta Omnium Planetarum Historica«, sondern auch in populären Journalen und Tageszeitungen beklagt worden.

      Im Gesamtzusammenhang der uns berührenden Geschichte ist es freilich ebenso wichtig, aus der Frühzeit der Fremdrassen, auf die menschlicher Forschungsgeist bisher gestoßen ist, nähere Kenntnisse zu erlangen. Der Weg dahin erweist sich in der Regel als noch schwieriger als das Aufspüren von Einzelheiten der frühen Menschheitshistorie, deren Probleme gerade kurz angerissen wurden.

      Zahlreiche Fremdrassen nämlich halten es geradezu für ihre Pflicht, dem Menschen selbst grobe Züge der Entstehung ihrer Kultur oder ihres Staatswesens vorzuenthalten. Uneinsichtigkeit, Ignoranz oder ganz einfach sture Abwehrhaltung erschweren derartige Forschung ungemein. Umso betrüblicher muss daher die Tatsache bewertet werden, dass Dokumente über die Entwicklung auf anderen Welten uns nach Erhalt wieder verloren gehen. Erfreulich aber auch, wenn eine glückliche Fügung solche Unterlagen wieder verfügbar macht.

      Eine solche Wiederentdeckung ist dem Unterzeichner dieser Vorbemerkung bei der Durchsicht abgelegter, zur Verbrennung bestimmter Akten gelungen. Wie die wichtigen Unterlagen zwischen die vergilbten Verwaltungsanordnungen gelangen konnten, ist unbekannt. Das wiedergefundene Dokument, einschließlich Begleitpapier, soll hier mit vollem entzifferbaren Wortlaut abgedruckt werden.

      Bei der geschichtlichen Quelle handelt es sich um ein Fragment der Stammesgeschichte einer intelligenten Spezies, die sich selbst »Maa« nannte. Die Papiere – es handelt sich um fünf handbeschriebene Blätter in der Rundbogenschrift der Maa, die teils stark verblichen sind – sowie deren Übersetzung wurden im Jahre 723 n. D. von dem Xenobiologen Heribert Polachewski an das damalige Zentralarchiv von Terra-City gesandt. Polachewski stand, wie in den Personalstammakten jener Zeit nachzulesen, in den Jahren 718 bis 731 im Dienst der irdischen Explorerflotte. Über die Art seiner Dienstverpflichtung, seinen Dienstgrad sowie sein weiteres Verbleiben nach 731 konnte nichts Genaueres in Erfahrung gebracht werden.

      Das Dokument der Maa besteht aus zwei Teilen, die sicherlich im Zusammenhang