Jörg Weigand

Die Welten des Jörg Weigand


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Wir haben festgestellt, dass wir nicht genügend Kleidung mitgenommen haben, um uns zu wärmen. Wir Männer sind da noch in einer besseren Lage, wir sorgen uns um die Jagd und sind daher immer in angestrengter Bewegung, doch Frauen und Kinder leiden stark an der Kälte.

      Auch Bo-o weiß keinen Ausweg; so weit im Norden war noch keiner von uns. Ta-u triumphiert wieder einmal. Zwar hatte er sich bei der letzten Ratssitzung der Stammesältesten nicht durchsetzen können, doch nun scheint es, als behielte er recht.

      Die Nahrung wird immer knapper, das wilde Breitkorn ist kaum noch zu finden. Wovon sollen unsere Frauen in Zukunft die Fladen zubereiten? Doch schlimmer noch: Auch mit der Jagd geht es nicht mehr wie zu Beginn. Seit Tagen haben wir keinen Wa-bo (d. i. eine Art Springbock, das Hauptjagdtier der Maa. H. P.) mehr erlegen können. Wir leben von den Vorräten, doch wir brauchen dringend frische Nahrung …«

      Das Maa-Dokument, Zweiter Teil

      »… haben sie Ta-u entseelt gebracht. Er ist in eine Felsspalte eingebrochen und tief gestürzt.

      Ich weiß nicht, wie lange wir uns schon wieder gegen Süden schleppen. Es gibt Stimmen unter uns, die meinen, es wäre besser gewesen, im Norden umzukommen. Doch Bo-o treibt uns vorwärts. Es ist erstaunlich: Freimütig gibt unser Anführer zu, dass er sich geirrt hat, was die Überlebensmöglichkeiten hier im Norden angeht. Doch Ta-us Triumph hat nicht lange gedauert, nun ist er tot. Bo-o dagegen ergeht sich in Andeutungen; immer wieder betont er, im Süden warte die eigentliche Entscheidung auf uns, wichtiger als alles, was der Stamm bisher durchgemacht hat. Bo-o hat wieder einmal eine Idee, doch noch will er nichts davon verraten.

      Wir sind nur noch insgesamt sechsundzwanzig Männer, Frauen und Kinder. Allmählich nähern wir uns wieder fruchtbaren Gefilden. Gestern gelang es unseren Jägern zum ersten Mal seit vielen Wochen, einen Wa-bo zu erlegen. Groß war die Freude, wir haben haltgemacht, um neue Kräfte zu sammeln. Das gibt Gelegenheit, diese Aufzeichnungen zu vervollständigen.

      Es scheint, wir haben den kalten Norden überlebt, nur um hier auf den fruchtbaren Äckern unseres Heimatdorfes zu sterben. Es ist Bo-os Idee.

      Kaum näherten wir uns wieder bekannten Tälern und Hügeln, da wuchs die Angst in uns vor der Roten Seuche. Je mehr Tage wir wieder zu Hause waren, umso größer wurde diese Angst. Apathisch saßen wir alle herum und warteten, dass die Krankheit uns packte. Es war Erntezeit, doch keiner dachte daran, die Früchte einzubringen oder für Mi-ra das Dankfest zu feiern.

      Da trat Bo-o mit jenem Vorschlag unter uns, der uns entsetzte, der aber gleichzeitig uns allen in der Tat der einzige Ausweg zu sein scheint. Bo-o schlug vor, wir sollten uns freiwillig mit der Roten Seuche infizieren, denn ein solches Leben in Angst sei in Wahrheit kein Leben mehr. Und nur der könne in Zukunft ohne Furcht weiterleben, der die Krankheit überwunden habe. Was schade es, wenn ein großer Teil des Stammes an der Seuche sterbe, wenn nur einige wenige als Immune die Krankheit überlebten. Bo-o hat uns klar gemacht, dass auf diese Weise das Volk der Maa wieder eine Zukunft haben werde.

      Und Bo-o hat recht. Denn schon mehren sich bei den restlichen Angehörigen des Stammes die Anzeichen des Wahnsinns, eines Wahnsinns, der seine Wurzeln in der erdrückenden Angst hat, die auf allen lastet. Natürlich gab es zuerst gegen Bo-os Idee Widerspruch, doch die meisten haben die Berechtigung seines Vorschlags rasch eingesehen. Die wenigen noch Entschlusskräftigen haben die Initiative ergriffen, morgen schicken wir drei unserer kräftigsten Jäger in die Nachbardörfer, um die Krankheit in unser Dorf zu schaffen …«

      (Hier beginnt das letzte Blatt, in einer anderen Handschrift abgefasst. Hier wie auch auf den Blättern zuvor ist nicht vermerkt, wer diese chronikartigen Aufzeichnungen verfasst hat. H. P.)

      »Bo-o ist tot. Heute Morgen erlag er der Roten Seuche. Zuletzt war sein Antlitz ganz mit jenen grässlichen Beulen übersät, die das Fleisch aushöhlen und zum Zusammenbruch führen. Bo-o starb, ein Lächeln auf den Lippen. Denn kurz zuvor haben wir ihn mit dem Ehrennamen ›Vater der Zukunft‹ geschmückt.

      Es ist nicht nur so, dass er uns eine neue Verheißung geschenkt hat, Bo-os Voraussage ist eingetroffen: Zwei unter uns, Nu-o der Starke und De-a die Üppige, sind offensichtlich unempfindlich gegenüber der schrecklichen Krankheit. Beide machen sich zum Aufbruch fertig. Lange kann es nicht mehr dauern, bis auch der Letzte von uns Kranken tot ist. Auch ich spüre bereits die Kälte in meinem Blut, kaum vermögen meine Finger den Stift zu halten.

      Nu-o und De-a mögen lange leben und ihre Nachkommenschaft ohne Furcht vor der Roten Seuche aufwachsen.

      Gesegnet sei Bo-o, der ›Vater der Zukunft‹.«

      Schlussbemerkung

      Soweit die Dokumente, die ein glücklicher Zufall wieder der Wissenschaft zugänglich machte. So dürftig diese Unterlagen sind, sie ermöglichen dennoch einige Einblicke in die Psyche einer Rasse, über die keine Annalen weitere Informationen enthalten. Auch die eigentlichen Berichte des Xenobiologen Heribert Polachewski, die er alle drei Monate abzuliefern hatte, sind nicht mehr auffindbar.

      Dass wir über jene wenigen Informationen verfügen, ist umso wichtiger, als eigene Recherchen des Herausgebers dieser Papiere ergeben haben, dass die Prophezeiung jenes Stammesführers mit Namen Bo-o, den die sterbenden Maa zum »Vater der Zukunft« ernannten, sich nicht erfüllt hat. Der Planet Maa-do ist entvölkert, von den Maa ist nichts mehr aufzufinden außer einigen Überresten ihrer nicht weit fortgeschrittenen Zivilisation.

      Die Ursachen für das endgültige Aussterben dieser Rasse sind unbekannt. Mag sein, dass die Nachkommen der beiden ursprünglich Resistenten dann doch nicht gegen die Rote Seuche immun waren. Ebenso möglich ist, dass Auswirkungen des Inzestes zur Degeneration und damit zum Aussterben führten; ein einziges Paar ist eben doch eine allzu schmale Basis für die Gründung einer neuen Volksgemeinschaft. Es kann aber natürlich auch noch andere Gründe für das Aussterben der Maa geben; diese sind uns jedoch unbekannt.

      Objekt der Verehrung (1981)

      Als sich die Abenddämmerung allmählich über die ausgedörrte Steppe senkte, begannen die Schakale zu heulen und die Frauen des Stammes stampften die letzten Körner für den Fladenteig. Zwei erfahrene Jäger erhoben sich aus der kauernden Runde, die der vorzeremoniellen Meditation gewidmet war, und begaben sich auf Posten für die erste Wache. Um die Mitte der Nacht, wenn der Mond sich über den Berg der Blitze erhob, würden sie von zwei anderen Stammesangehörigen abgelöst werden.

      Tarak, der Jungjäger, war für diese Nacht von der turnusmäßigen Wache befreit. Als Jüngster im Mannesalter, er zählte gerade sechzehn Sommer, wurde er zwar öfter als die Alterfahrenen zu Diensten und Pflichten herangezogen, doch hatte die Erfahrung den Stamm gelehrt, dass man selbst die Zähesten und Ausdauerndsten unter den Jungen nicht unbegrenzt belasten konnte. So waren auch Tarak fünf von zehn Nächten zum unbegrenzten Schlaf gestattet worden.

      Tarak reckte seine breiten Schultern, griff hinter sich zum abgelegten Bogen und dem Köcher und erhob sich aus der gebückten Haltung. Bis zur Zeremonie war noch ein wenig Zeit. Seine Augen suchten Malia, die vierzehn Sommer zählte; ihre tiefbraunen, glutigen Augen und ihr schlanker Körper hatten es ihm angetan. Nach den Regeln des Stammes galt zwar die Verbindung von Mann und Frau innerhalb der Stammeseinheit als nicht erwünscht, doch handelte es sich dabei nicht um ein direktes Tabu – sodass Tarak fest entschlossen war, Malia nach allen Kräften zu umwerben, um sie im nächsten Sommer, wenn sie das heiratsfähige Alter erreichen würde, in seine Hütte zu führen.

      Der Stamm der Hundskrieger lagerte seit Generationen am Rande der großen Ebene, die auch jetzt noch – nach so langer Zeit – von den Narben der Großen Katastrophe gezeichnet war. Diese Steppe dehnte sich über den ganzen nördlichen Teil Elopas aus; tundraartiger Bewuchs sorgte für nur wenig Abwechslung. Dennoch: die Steppe gab ihnen Nahrung, und in den Randgebieten gegen Süden hin ließ sich sogar während der Trockenzeit noch etwas Wasser finden. Und der hochstämmige Wald auf den Hängen der Berge, die den Südwesten der Ebene einfassten, bot den idealen Standort für die Behausungen der Hundskrieger.

      Malia