jungen Arzt befiel eine wachsende Erregung; er sah das Ziel seiner großen Reise greifbar nahe vor sich. Ich werde der erste Europäer sein, der die Sayad im Hamun-Sumpf besucht! dachte er. Und laut sagte er zu einem der Männer: „Ich möchte mit euch auf Fischfang ziehen!“
Der Angeredete wich anfangs aus. „Zu uns darf kein Fremder. Ich weiß auch nicht, ob es unser Dorfältester erlauben würde!“
„Wie weit ist es zu eurem Dorf?“ fragte Thiemo. Der Fischer beschrieb mit unbestimmter Bewegung des Armes einen weiten Bogen. „Zwei Tage – vielleicht länger, wenn das Wasser steigt.“
Das Wasser? Thiemo erinnerte sich, daß die Frühjahrswässer des großen Hilmendflusses den Hamun-See inmitten der riesigen Schilfsenke zum Steigen brachten.
„Wann steigt das Wasser?“ fragte er.
Der Sayad zuckte die Schultern. „Wer weiß es!“
In Thiemo wuchs die Ungeduld. „Ich komme mit, unauffällig! Kein Grenzwächter braucht es zu erfahren!“
Im Auge des Fischers blitzte etwas auf – dann nickte er stumm.
Thiemo rüstete sich in seiner Herberge in fieberhafter Erregung. Er packte Zeichenstift, Filme und Fotoapparat zu dem Proviant, steckte den Kompaß und das kleine Barometer zu sich, vergaß auch nicht reichlich Munition für sein Gewehr. Gegen Abend schlenderte er dem hellgrünen Weidengehölz an einem flachen Seitenarm des großen Hilmendflusses zu.
Unter einer hohen Tamariske erwartete ihn der Fischer. „Hat dich niemand gesehen?“ fragte er lauernd.
Thiemo schmeckte das Abenteuer auf der Zunge. Er lächelte übermütig. „Ich bin auf die Jagd gegangen – sonst nichts!“
Die Wanderung begann. Auf schmalem Pfad schritten sie schweigend hintereinander. Hohe Tamariskenwälder wechselten ab mit undurchdringlichem Weidendickicht. Zuweilen gluckste das Wasser unter jedem Tritt, und zwischen dem Schilf spiegelten sich die ersten Sterne auf einem reglosen Flußarm. Der Abendwind hatte nachgelassen, nur der eintönige Schrei eines Nachtvogels unterbrach das Schweigen. Spät nach Mitternacht erreichten die Wanderer eine Hütte, die hoch in das Geäst einer uralten Weide hinaufgebaut war. Eine Leiter aus Lianen hing herab. Sie kletterten daran empor und waren so vor unliebsamen Überraschungen – vor Schakalen und auch Tigern, die im Schilf hausen sollten – einigermaßen sicher. Thiemo schlief bald tief und traumlos ein.
Am Morgen des folgenden Tages erkannte Thiemo, daß sich die Welt um ihn verändert hatte. Übermannshohe Schilfmauern schlossen den Pfad ein, auf dem er dahinschritt. Dieser verzweigte sich von Zeit zu Zeit nach drei, vier Richtungen. Der Fischer schien an unsichtbaren Merkzeichen zu erkennen, wohin er sich wenden mußte – jeder Fremde aber hätte sich rettungslos verirrt und wäre irgendwo im Sumpf oder Wasser gelandet. Und wie sollte er den Rückweg finden in diesem Labyrinth von Gängen und Wildwechseln? Thiemo fühlte bei diesem Gedanken eine leise Warnung aufsteigen. War er nicht völlig auf Gedeih und Verderb seinem schweigsamen Begleiter ausgeliefert?
Pah! Das war doch übertrieben. Er trug ein gutes Gewehr an der Schulter, er kannte seine unfehlbaren Karate-Griffe. Und wer konnte schon ein Interesse an ihm, dem einfachen Fremden, haben?
Jetzt tippte er dem Voranschreitenden auf die Schulter: „Wie weit ist es noch bis zum Dorf?“
Der Sayad nickte mit unergründlicher Miene. „Warte hier auf mich. Wir sind nahe, ganz nahe!“
Thiemo fand es natürlich, daß er als Fremder erst angemeldet werden mußte. Drei Pfade liefen auseinander – er wollte sich gut einprägen, auf welchem sie gekommen waren und wohin der Sayad gegangen war. Allerdings glich ein Pfad dem anderen. Deshalb schnitt Thiemo etliche hohe Schilfhalme als Markierung ab. Dabei betastete er mehrere Halme genauer und – fand plötzlich scharfe Kerben im Rohr! Aufwärts wiesen sie an einer Seite, abwärts an der entgegengesetzten – drei Kerben auf dem Pfad, den sie gekommen, eine Kerbe auf den Nebenpfaden. Thiemo suchte weiter. Alle zehn Schritte die Kerben… Er hatte die Pfadmarkierung entdeckt!
Thiemo atmete erleichtert auf. Jetzt kannte er den Weg aus dem Schilfmeer. Beruhigt ließ er sich an der Pfadkreuzung nieder und schrieb rasch seine bisherigen Erfahrungen in sein Tagebuch.
Plötzlich zuckte er zusammen. Hatte nicht hinter ihm etwas geraschelt? Er blickte sich um – nichts. Hoch in den Lüften schrie ein Zug wilder Gänse. Der „Wind der hundertzwanzig Tage“ fiel wieder in rauschenden Stößen ein.
„Komm, Fremder!“
Urplötzlich, wie aus dem Boden gewachsen, war der Sayad hinter ihm. Woher war er gekommen? Thiemo verbarg seine Überraschung, auch als sein Führer in einen der beiden Nebenpfade einlenkte. Nach kurzer Zeit stieg der Boden etwas an, das Schilf trat zurück. In der Lichtung, die sich öffnete, stand auf hohen Holzpfählen eine Hütte – eine einzige Hütte!
„Ist das alles?“ fragte Thiemo enttäuscht.
„Nicht alles; das Dorf liegt drüben!“
Aha, eine Art Empfangshaus also! Doch kein Mensch war um die Hütte zu sehen. Tamariskengebüsch wucherte neben dem Pfad. Der Sayad schritt voran und trat neben dem offenen, halbdunklen Eingang zur Seite. „Tritt ein, Fremder!“ sagte er einladend.
Thiemo trat einen Schritt vor – da prallte er mit dem Gesicht auf ein Netz. „Hallo!“ rief er. In diesem Augenblick schlug das Netz über ihm zusammen. Mit jähem Ruck wurde Thiemo zurückgerissen, daß er stürzte. Von rechts und links sprangen zwei Männer aus dem Gebüsch und warfen sich auf ihn. Er wollte um sich schlagen, doch das Netz behinderte jede Bewegung. Ein wuchtiger Hieb machte ihn schließlich bewußtlos.
Thiemo erwachte aus seiner Betäubung von dem Schnattern wilder Gänse, die ganz in der Nähe sein mußten. Er öffnete die Augen und blickte um sich. Das Netz war fort, aber er fühlte Fesseln.
Im Winkel der Schilfhütte erhob sich eine Gestalt. Sie war jung und kräftig, mit schwarzen, funkelnden Augen. „Du bist in meiner Gewalt, Fremder!“
Dem Gefangenen war nicht gerade wohl in diesem Augenblick. Er dachte an Narrimans Warnung: afghanisches Räubergesindel! Aber er vertrieb diese Gedanken und fragte: „Was soll das sonderbare Spiel bedeuten?“
„Spiel?“ Der Wächter lächelte höhnisch. „Du wirst diese Hütte erst verlassen, wenn Lösegeld eingetroffen ist.“
Thiemo erkannte den Ernst seiner Lage. Er schwieg und wandte den Kopf zur Seite. Er überlegte. Endlich wurde es dem Wächter zu lang. „Hat der Fremde dazu nichts zu sagen?“ fragte er.
„Führe mich zu eurem Ältesten! Nur mit diesem werde ich sprechen!“ forderte Thiemo rauh.
„Oho, willst du mir etwas befehlen?“ fuhr der Wächter auf.
Thiemo sprach weiterhin kein Wort mehr. Da verließ der Sayad die Schilfhütte.
Jetzt versuchte der Gefesselte die Riemen, die ihm ins Fleisch schnitten, zu lockern. Aber sie waren auf eine unangenehme Art angelegt: Sie liefen nämlich über die Schultern und dann zwischen den Beinen hindurch, und Thiemo lag zusammengerollt wie ein Igel. Ein Befreiungsversuch schien hoffnungslos.
Da verdunkelte sich der Eingang, und Thiemo wurde roh emporgerissen. Man lehnte ihn an die Hüttenwand.
„Wieviel bietest du?“ fragte ein älterer, dunkelhäutiger Sayad.
„Führe mich erst zu eurem Dorf! Dort setzen wir uns zusammen und beraten“, befahl Thiemo wieder.
Der Dorfälteste – denn das war der Fragende – lachte spöttisch auf. „Wer bist du überhaupt, daß du so sprichst?“
„Ich bin ein Mann der Medizin. Wer sich an einem solchen vergreift, der fordert den König heraus. Der läßt euer Schilfmeer niederbrennen und rottet euch aus!“
Das Wort von der Medizin machte auf den Alten Eindruck. Doch dann lachte er laut: „Ho-ho, du kommst von drüben! Was kümmert uns der Schah. Er soll zahlen, wenn er dich zurückhaben will.“
Der Schah! Der