Schweig endlich!“ rief der Alte wütend. „Wir wollen Lösegeld für dich – sonst nichts!“
Thiemo wandte sich ab. „Dann behandelt mich menschlicher und kommt morgen wieder. Bis dahin will ich errechnen, wieviel ich wert bin. Das sollt ihr bekommen – in Geld oder Taten!“
Er hatte seine Ruhe wiedergefunden. Diese Sayads waren Naturmenschen, denen im harten Kampf ums Leben – abgedrängt in den Sumpf und verachtet von den wohlhabenden Afghanen auf sicherem Boden – auch Raub als gewöhnliches Handwerk galt. Mit solchen mußte man geduldig verhandeln; Schritt um Schritt mußte man sie gewinnen und von den eigenen Vorschlägen überzeugen. Festigkeit imponierte ihnen am ehesten, nicht aber zaghaftes Bitten!
Ein Wink des Alten, und Thiemos Lage wurde erleichtert. „Ich komme morgen wieder!“ knurrte der seltsame Dorfvorsteher und ging.
Den zwei Wächtern schenkte der Gefangene kein weiteres Wort mehr. Er war erschöpft und versuchte jetzt zu schlafen, und endlich gelang es ihm auch.
Doch am nächsten Morgen erschien der Dorfälteste nicht! Thiemo lag lauschend in seiner „Gästehütte“ aus Schilf und konnte nichts von der Umgebung sehen. Als die beiden Wächter abgelöst wurden, horchte er gespannt auf ihre Worte. Er verstand soviel aus ihren Reden im Putschu-Dialekt, daß der Alte, der wohl im ganzen Sumpfland Ansehen besaß, überraschend zu einem anderen Dorf geholt worden war, um einen Streit um Fischereirechte in einigen Lagunen des Hamun-Sees zu schlichten. Es ging zwischen zwei feindlichen Dörfern heiß her, und der Schiedsrichter würde erst in einigen Tagen zurückkommen.
In einigen Tagen! Bis dahin war Thiemo vermutlich unbehelligt! Nur die Wächter würden bleiben. Inzwischen konnte manches geschehen – seine Flucht zum Beispiel!
Seine Gedanken arbeiteten fieberhaft. Er kannte doch die Pfadmarkierung aus dem Schilflabyrinth! Allmählich entstand ein Fluchtplan. Er würde sich einfach krank stellen – er als Arzt verstand das gut. Er wollte Erleichterung verlangen, sogar mit dem Sterben drohen, wenn man nicht darauf einging. Die Angst um den wertvollen Gefangenen würde die Wächter gefügiger machen! Fielen einmal die Fesseln, dann würde er bald ganz frei sein. Es war jetzt Vollmond – die beste Zeit zur Flucht!
Am Nachmittag lag er stöhnend auf seinem Lager. Die Wächter erschraken und brachten einen Medizinmann. Dieser murmelte beschwörende Zauberformeln; ein Kessel wurde über die Feuerstelle gehängt und ein Trank gebraut, von dem es Thiemo fast den Magen umdrehte. Seine Fesseln wurden gelöst, dafür aber die Wächter verdoppelt. Die halbe Dorfschaft lungerte vor der Hütte des Fremden herum; und die ganze Nacht brannte ein Feuer in der Hütte, um die krankheitbringenden Geister zu bannen.
Am dritten Tag gab Thiemo auf. Sein so klug scheinender Plan war fehlgeschlagen. Er hatte die Aufmerksamkeit der Sayad einschläfern wollen – nun hatte er sie erst recht auf sich gezogen! So erklärte er sich den staunenden Sumpfmenschen plötzlich wieder als gesund, aß alles, was man ihm erleichtert vorsetzte, und mußte es sogar gelten lassen, daß man ihn wieder fesselte. Immerhin, das Eis der feindlichen Stimmung war gebrochen. Thiemo führte jetzt mit seinen Wächtern lange Gespräche und erfuhr viel über die Lebensweise und Kultur dieses seltsamen Volkes. Auch er berichtete den aufmerksam lauschenden Menschen aus seiner Heimat. Eine Gefahr für Thiemos Leben bestand kaum mehr. Das Lösegeld – man würde ja sehen. Am Abend dieses dritten Tages schlief er ohne weitere Fluchtgedanken ein…
„Auf, Sah’b, auf!“ Jemand rüttelte Thiemo in höchster Eile. „Komm mit uns! Nurred, der Dorfvorsteher, ist schwer krank heimgekehrt!“
Über dem Schilfmeer war ein neuer Tag heraufgestiegen. Man hörte in der Nähe zwischen den Windstößen Wellenschlag. Da und dort glänzte auf dem Pfad eine Pfütze. Begann der See zu steigen?
Thiemo zählte im Gehen die Schritte. Nach neunhundert öffnete sich eine Lichtung, und zehn, zwanzig Hütten standen da vor ihm auf hohen Pfählen aus krummem Schwemmholz – ein Pfahlbaudorf wie aus prähistorischer Zeit! Zwischen den Hütten liefen Stege auf Stangen. Draußen aber silberte ein weites, unübersehbares Wasser; der Hamun-See!
Durchs Dorf der Sayad geisterte Unruhe. Gruppen von Männern standen mit verstörten Gesichtern beisammen, Kinder drückten sich scheu vorbei. Von Frauen war nirgends etwas zu sehen. Der Wächter führte den Gefangenen auf die größte Hütte in der Mitte des Dorfes zu. Sie stiegen acht, zehn Sprossen empor. Nurred, der Dorfvorsteher, lag kauernd auf einer Flechtmatte. Seine Augen flackerten glanzlos und müde, die dunklen, mageren Hände zitterten.
Thiemo fühlte den unruhigen Puls des Alten, sah das Weiße in dessen Augen rot entzündet. Er hatte in einem Tropeninstitut seine ärztlichen Kenntnisse vertieft. Ihm waren auch alle die schrecklichen Krankheiten vertraut, die noch heute als Geißeln unter den Völkern Asiens wüten. Doch hier stand er ohne jene technischen Hilfsmittel, wie sie die großen Laboratorien der Spitäler Teherans boten. Allein auf seine Kenntnisse und auf seine Augen mußte er sich verlassen! So starrte er auf die Hände und die unbedeckten Arme des Kranken. Sie waren dunkel verfärbt; da und dort hoben sich entzündete Schwellungen – wie Beulen!
Wie Beulen! Ein furchtbarer Verdacht stieg dem Arzt auf. Er riß die Hüllen des Kranken auseinander. Als der leise Stöhnende nackt vor ihm lag, weiteten sich Thiemos Augen. Die Gedanken jagten durch seinen Kopf, jeder Zweifel schwand. Langsam wandte er sich um und blickte in die Augen der umstehenden Männer. „Das ist die Pest!“
Die Sayad wichen bei diesem Wort zurück und stürzten aus der Hütte. Der Alte richtete sich mühsam auf. „Die Pest, sagst du? Einmal bin ich ihr entflohen – vor vierzig Jahren – über den See, in die Wüste – und heute – heute – holt sie mich ein!“
Thiemo verlor keinen Augenblick die Fassung. Er entsann sich, gelesen zu haben, daß vor vierzig Jahren die Pest ebenfalls aus dem Hamun-Sumpf gekommen war. Damals war der Schwarze Tod nicht nur über Afghanistan, sondern auch über halb Persien hinweggerast. Man kannte zu dieser Zeit die Schutzimpfungen noch nicht, und so waren die Menschen zu Tausenden der Seuche erlegen. Seither hatte sich viel geändert. Thiemo wußte es plötzlich sehr zu schätzen, daß er selber in Teheran gegen die Pest geimpft worden war!
Er deckte den Burnus wieder über den Körper des Kranken und sagte: „Es ist die schwächere, nicht immer tödliche Art: Die Beulenpest. Eine Impfung kann dich vielleicht retten!“
Der Alte schaute ungläubig. „Kannst du helfen – gegen diese Pest?“
Thiemo überlegte kurz. Er wußte, daß jede persische Stadt den Impfstoff gegen die Pest besaß. „Bringt mich auf schnellstem Wege nach Schahr Zabul!“ Dann trat er aus der Hütte und rief einige Männer herbei. Zögernd kamen sie bis an den Eingang heran. Der Arzt verstand nicht, was ihnen der Dorfälteste in abgerissenen, heiseren Worten befahl; aber ihre düsteren Mienen hellten sich allmählich auf. Die Wächter ließen die Waffen sinken. In die Menschen des Pfahlbaudorfes kam allmählich Leben. Worte flogen von Hütte zu Hütte, selbst Frauen und Kinder tauchten auf und schauten zu dem Fremden, der die Rettung kannte. Zehn, zwanzig Männer erboten sich sofort, Thiemo aus dem Schilf zu führen.
Zunächst brachte man ihm seine Habe wieder. Mit den Männern schritt er dann die leichte Erhöhung des Dorfes hinunter zum See. Das hohe Schilf umschloß sie wieder und verschluckte die geheimnisvolle Siedlung. Der Pfad wurde weicher, schlammig, und verlief sich schließlich in größeren und tiefer werdenden Pfützen.
„Der See steigt! Wir erreichen das afghanische Ufer auf dem Schilfpfad nicht mehr!“ stellten die Männer der Sayad plötzlich verstört fest.
„Wo liegt der offene See, das freie Wasser?“ fragte Thiemo. „Gibt es an allen Ufern nur Schilf und Sumpf?“
Ein Mann wies gegen Westen hinüber. „Dort drüben liegt das höhere persische Ufer. Aber das ist für uns verbotenes Land!“
„Bringt mich hinüber; gemeinsame Not öffnet alle Grenzen!“
Sie kehrten um, umwanderten das Sayaddorf und wateten durch knietiefes Wasser bis zu den hochgebauten Landestegen hinaus. Die Sayad nahmen diesmal nicht die langen, schmalen Boote; sie wählten ein starkes, schwerfälliges Floß für die