sie darum gebeten, ihm zu helfen. Und irgendwie und ohne ein Wort zu sagen, war sie dazu bereit gewesen.
In der Regel erzählte Martine ihrer Großmutter, was diese wissen musste. Das Geheimnis der unhörbaren Hundepfeife, mit der sie die weiße Giraffe herbeirief, hatte sie allerdings für sich behalten. So konnte sie ohne Angst, entdeckt zu werden, im Fenster ihres Zimmers stehen und pfeifen, bis Jemmy bei dem kahlen Eukalyptusbaum am Wasserloch auftauchte.
Als das Licht im Schlafzimmer ihrer Großmutter ausging, zog sie ihren Schlafanzug aus und schlüpfte in Jeans, Stiefel, Sweatshirt und Anorak. Sie holte Messer und Taschenlampe aus dem Überlebensbeutel, den sie hinter dem Bücherregal versteckt hatte, und schlich die Treppe hinunter. Jemmy wartete beim Eingangstor zum Reservat auf sie. Sein weißes Fell leuchtete gespenstisch durch die dunkle Nacht. Er legte sich hin, damit sie auf seinen steilen, samtweichen Rücken klettern konnte. Als sie sicher saß, sagte sie: «Los Jemmy!» Darauf erhob er sich und galoppierte mit ihr davon.
Der Winterwind schlug Martine ins Gesicht. Aber das störte sie ausnahmsweise nicht. Die Aufregung über den verbotenen Ritt hatte sie in einen Rausch versetzt. Das Reiten während des Tages hatte zwar auch sein Gutes. Es war weit weniger gefährlich, und sie musste sich nicht aus dem Haus stehlen. Andererseits konnte sie tagsüber nicht so wild reiten. Ihre Großmutter wäre fassungslos gewesen, hätte sie gesehen, wie schnell Jemmy durch das Reservat preschte, wenn man ihn nur ließ. Aber tagsüber musste sie sich vor allem von Jemmys Refugium, dem Geheimen Tal, fernhalten, in das die weiße Giraffe als Waise von einem Elefanten gebracht und so vor Wilderern gerettet worden war.
Genau in dieses Geheime Tal wollte Martine heute Nacht mit Jemmy. Sie wusste nicht weshalb, aber sie musste die Höhle, die den Schlüssel zu ihrem Schicksal in sich barg, noch einmal sehen, bevor sie Sawubona verließ. Leider war die Höhle im Geheimen Tal schlecht zugänglich. Der Eingang zum Tal war eine von dornigen Kriech- und Schlingpflanzen verborgene Felsspalte hinter einem knorrigen Baum. Es gab nur eine Möglichkeit, durch die Spalte zu gelangen: Jemmy musste mit höchster Geschwindigkeit auf den Baum zureiten und dann genau im richtigen Winkel zu einem weiten Sprung ansetzen. Martine hatte immer die größte Mühe, sich während des Sprungs auf Jemmys Rücken zu halten. Auch dieses Mal war es nicht anders. Die Dornenranken kratzten und stachen sie, und sie hatte keine andere Wahl, als ihr Gesicht in Jemmys Mähne zu verstecken und sich an seinem Hals festzuklammern. Sie hoffte nur, dass die Dornen keine auffälligen Kratzwunden in ihrer Haut hinterlassen würden, für die sie am nächsten Morgen eine Erklärung erfinden müsste.
Im Tal hing immer noch der Duft von Orchideen, obwohl diese längst nicht mehr blühten. Durch eine enge Öffnung war ein kleines Stück Sternenhimmel zu sehen, das dem dunklen Grasboden einen gespenstisch bläulichen Schimmer gab. Martine rutschte von Jemmys Rücken hinunter und gab ihm einen Dankeskuss. Sie war erst zum dritten Mal im Tal, und der Gedanke, gleich in die gruselige Höhle zu kriechen, machte sie nervös. Jemmy blickte ihr mit zuckenden Ohren hinterher.
In dem engen Durchgang roch es nach Moder und Raubtier, als hätte noch vor Kurzem ein Leopard dort gehaust. Martines Taschenlampe warf einen dünnen, flackernden Strahl über die zerklüfteten Wände. Nach einer Weile wurde der Höhlengang breiter und machte einen Bogen. Jetzt wusste Martine, dass sie im Inneren des Berges war. Mit Mühe erklomm sie die steil ansteigenden, moosbewachsenen Stufen, die in die Vorkammer der großen Halle führten. Martine ärgerte sich über sich selbst, weil sie keinen Plan ausgeheckt hatte, um ihre Jeans sauber zu halten. Sie hätte ja Abfallsäcke um die Hosenbeine wickeln können. Sie besaß nur zwei paar Jeans, die sie beide am nächsten Morgen auf die Reise mitnehmen musste.
Kurz bevor sie oben ankam, schaltete sie ihre Taschenlampe aus. Beim ersten Mal in der Höhle hatte sie die mit gefalteten Flügeln von der Decke baumelnden Fledermäuse derart aufgescheucht, dass sich die klebrigen Tiere in ihren Haaren verfingen. Diesmal hatte sie Glück. Die Fledermäuse blieben regungslos hängen.
Als Martine die «Gedächtnishalle», wie sie von den Älteren genannt wurde, betrat, knipste sie die Taschenlampe wieder an und atmete tief ein. Sie mochte die Schwere der Luft. Es war, als könnte sie darin noch etwas von vergangenen Generationen spüren. Überall an den Wänden waren Malereien, die das Leben und die Erinnerungen eines untergegangenen Stammes von Buschmännern, den San, darstellten. Rote, schwarze und ockerfarbene Zeichnungen von großen Wildtierherden und Jägern mit Pfeil und Bogen erwachten im Lichtkegel ihrer Taschenlampe zum Leben, als seien sie erst gestern gemalt worden. Martine fühlte sich geehrt, die über die Wände galoppierenden Tiere bestaunen zu dürfen. Immer wenn sie in der Höhle war, hatte sie den Eindruck, ihre eigene, private Kunstgalerie zu besuchen.
Sie ging zu den Zeichnungen mit der weißen Giraffe. Obwohl sie die Darstellungen seit Monaten nicht mehr gesehen hatte, war es ihr, als trage sie sie immer in ihrem Herzen mit sich herum. Nur auf einer der drei Zeichnungen war das auf einer weißen Giraffe reitende Kind zu sehen. Dem Buschmann, der das Bild gemalt hatte, war eine so vollkommene Darstellung von Jemmys edlem Fell gelungen, dass es glänzte wie ein echtes.
In ihren Gedanken war sie oft in die Halle zurückgekehrt. Deshalb fiel ihr zunächst gar nicht auf, dass sich die Bilder etwas verändert hatten. Wie betäubt starrte sie auf die Höhlenwand. Es dauerte eine Weile, bis sie verstand, was sich ihren Augen darbot. Die Bilderfolge war um zwei Darstellungen ergänzt worden.
Martine überlegte sich, ob sie diese beiden Bilder bei ihren früheren Besuchen vielleicht einfach übersehen hatte. Nein, das konnte nicht sein. Sie waren zwar teilweise von einem pyramidenförmigen Steinbrocken verdeckt, doch sie hatte die Malereien schon zweimal eingehend und aus nächster Nähe betrachtet. Beim zweiten Mal war Grace mit ihr gewesen, und auch Grace hatte nichts bemerkt. Oder vielleicht doch?
«Die Antworten auf deine Fragen stehen hier an den Wänden», hatte die Sangoma gesagt. «Aber erst Zeit und Erfahrung werden dich lehren, sie zu sehen mit den richtigen Augen.»
Als Martine die Wand berührte, spürte sie eine seltsame Energie. Der Lichtschein ihrer Taschenlampe fiel auf ein Rinnsal, das aus einem Felsspalt lief. Vielleicht konnte das Wasser eine – wenn auch nicht vollends überzeugende – Erklärung liefern. Womöglich waren die Malereien von einem feinen Staub bedeckt gewesen, der mit der Zeit vom hinabströmenden Regenwasser weggewaschen wurde. So kam das darunterliegende Bild zum Vorschein. Das war zumindest eine Möglichkeit. Doch Martine mochte nicht daran glauben. Sie war eher geneigt, Grace zu vertrauen, dass erst Zeit und Erfahrung sie lehren würden, das zu sehen, was sie sehen musste.
Auf dem ersten Bild lagen einundzwanzig Delfine nebeneinander an einem Strand. Aus dem Ohr eines Delfins floss Blut. Das zweite Gemälde bestand eher aus einem Muster als einer Darstellung. Es zeigte unzählige Ringe von Delfinen – auf den ersten Blick waren es Hunderte –, die von einem größeren Ring von Haien umgeben waren. In der Mitte war noch etwas zu sehen. Martine hob die Taschenlampe und ging näher heran. Es war ein schwimmender Mensch. Ein schwimmender Mensch, umgeben von Haien und Delfinen.
Martines Herz geriet für einen schmerzhaften Augenblick ins Stocken. Sie befand sich inmitten einer uralten Weissagung. Das Schicksal, das die Vorfahren vorausgesagt oder geplant hatten (sie wusste nie, was eher zutraf), war einmal mehr in Bewegung geraten und riss sie wie ein Laubblatt auf einem reißenden Strom mit. Martine fragte sich, ob es möglich war, dem Schicksal zu entrinnen. Ihre Eltern hatten es versucht – mit katastrophalen Folgen. Aber vielleicht konnte sie ihm einfach ausweichen. Sie würde mitfahren, aber nicht schwimmen und das Wasser meiden – da konnten sich die anderen auf den Kopf stellen. Die Haie würden wohl kaum über die Reling klettern, um nach ihr zu schnappen.
Als würden sich die Vorfahren aus dem Grab melden, begann ihre Taschenlampe plötzlich zu flackern. Martine hatte sich vorgenommen, tapfer zu sein, als sie sich in die enge Höhle aufmachte, doch jetzt verlor sie die Nerven. Unvermittelt drehte sie sich um und rannte davon. In der Aufregung vergaß sie die Fledermäuse ganz. Sie stolperte laut die Stufen hinunter und der Lichtkegel ihrer Taschenlampe fuhr wild über die Wände. So wurden die Fledermäuse unsanft aus ihren Kopfüberträumen gerissen. Im Spiel der umherhuschenden Schatten sah es aus, als klebte eine Vampirtapete auf der Höhlenwand. Ein wütendes