Lauren St John

Die Nacht der Delfine


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brauchst, Kleine, wenn du ihn zum Überleben brauchst.»

      Der Zulu hatte ihr geholfen, die Ausrüstung für diese Reise zusammenzustellen. Abgesehen von ihrer rosafarbenen Maglite-Taschenlampe hatte sie ein paar Streichhölzer eingepackt, die sie mit Kerzenwachs wasserdicht gemacht hatte, ihr Schweizer Armeemesser, eine Rolle Angelschnur «extrastark» mit einem Haken, drei verkorkte Fläschchen mit den speziellen Heilmitteln von Grace zur Behandlung von Wunden, Kopfschmerzen und Magenverstimmungen, eine Trillerpfeife, ein Stück Ingwerwurzel gegen Seekrankheit und einen Blechdosendeckel mit einem Loch in der Mitte zur Alarmierung von Flugzeugen.

      «Das brauche ich doch nicht alles», hatte sie zu Tendai gesagt. «Wieso sollte ich Hilfssignale an ein Flugzeug aussenden müssen?»

      Doch Tendai hatte erwidert, dass es bei einer Überlebensausrüstung gerade darum ging, Dinge für jeden möglichen Notfall mitzunehmen. Wahrscheinlich würde man gar nichts davon brauchen. Dafür war man aber für alle Fälle vorbereitet.

      Als die wolkenverhangenen Felsen des Tafelbergs ins Blickfeld rückten, sangen die Kinder im Bus afrikanische Lieder, und der Geist der Freiheit, verbunden mit dem Gedanken, dass sie sich auf eine abenteuerliche Seefahrt begaben, statt die Schulbank zu drücken, war ansteckend. Doch Martine konnte das Gefühl einfach nicht loswerden, dass irgendetwas Düsteres auf sie zukam. Sie legte eine Hand auf den Überlebensbeutel. Demnächst würde sie ihn brauchen, das spürte sie.

      • 6 •

      Innerhalb weniger Stunden hatten die kräftigen, salzigen Winde des Kaps und der bloße Anblick des saphirblauen, gegen die Küste brandenden Meers Martines böse Ahnungen wie weggefegt. Es kam ihr auch entgegen, dass sie gar keine Zeit zum Nachdenken hatte. Nach einem Besuch in der Pinguinkolonie von Simon’s Town, dem größten Marinestützpunkt Südafrikas, und einem Picknick mit Mangosaft und Sandwiches mit geräuchertem Barrakuda ließ Miss Volkner die ganz große Überraschung platzen. Noch vor der Sardinenwanderung würden sie zur sogenannten Shark Alley fahren, um dort Touristen beim Käfigtauchen mit Weißhaien zu beobachten.

      Haigasse! Schon der Name ließ Martine erschauern. Es war ihr sofort klar, dass sie einen Vorwand haben musste, um von diesem Ausflug verschont zu werden – eine Lebensmittelvergiftung zum Beispiel. So würde sie der Gefahr aus dem Weg gehen, dass ihr Albtraum Wirklichkeit werden könnte und sie sich in einer bewegten blauen Bucht inmitten von Haien tummeln müsste. Doch dann wurde ihr schnell klar, dass eine vorgetäuschte Krankheit in diesem Stadium der Reise, noch bevor sie an Bord des großen Schiffes gegangen waren, unweigerlich zur Folge hätte, dass man sie nach Sawubona zurückschicken würde, zu ihrer Großmutter. Da waren ihr selbst Haie noch lieber.

      Wenig später durchpflügte das Tiefseefischerboot Prowler IV die kabbelige See mit ihren weißen Schaumkämmen. Auch Martine war an Bord gegangen und bereute es nicht, ihren Ängsten widerstanden zu haben, die ihr im Nachhinein lächerlich vorkamen. Schließlich war es keineswegs so, dass sich alle Träume verwirklichten. Einmal hatte sie zum Beispiel geträumt, sie habe vergessen, ihre Schuluniform anzuziehen und dies erst beim Betreten der Schule bemerkt. Und sie konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, je etwas Derartiges auch nur im Entferntesten erlebt zu haben.

      Und die Höhlenmalerei bedeutete vielleicht nur, dass sie in nächster Zeit viel von Haien und Delfinen umgeben sein würde. Das traf ja durchaus zu. Vielleicht hatten die Buschmänner einfach vergessen, das Schiff zu malen. Auf jeden Fall beschloss Martine, sich nicht weiter den Kopf zu zermartern und stattdessen den Tag zu genießen. Eigentlich konnte ja gar nichts schiefgehen, denn die Sicherheitsvorkehrungen auf der Prowler IV waren äußerst streng. Jedes Mal, wenn das Boot auf eine Welle auffuhr, spürte Martine die hochschießende Gischt wie Nadeln auf ihrem Gesicht, doch solange sie nicht über Bord fiel, bestand eigentlich keine Gefahr, dass sie im Meer untergehen könnte.

      Auf der Felseninsel Geyser Rock lebten eine Kolonie von rund 40.000 Pelzrobben und Hunderte von Brillenpinguinen. Die Robben ließen sich von Fels zu Fels plumpsen, bellten, heulten und posierten mit ihren Schnauzen und Barthaaren einmal nach links und einmal nach rechts für die Touristenkameras. Ihre Körper glänzten im diesigen Sonnenlicht, als wären sie aus Bronze.

      «Leckerbissen für Haie», spaßte Greg, der Kapitän der Prowler IV, ein mit Sommersprossen übersäter Südafrikaner mit kupferbraunem Seemannsbart. «Das hier ist die Ausgehmeile der Großen Weißen.»

      Martine zuckte bei dieser Vorstellung innerlich zusammen. Es machte sie traurig, doch sie wusste andererseits auch, dass eine Überpopulation von Robben, die alle um Raum, Paarungspartner und Nahrung im Wettstreit wären, das sichere Ende der Kolonie bedeuten würde. Die Robben brauchten die Haie ebenso sehr, wie die Haie die Robben brauchten.

      Wegen des leckeren Schmauses, der sich ihnen hier bot, bevölkerten Weißhaie den seichten Kanal zwischen Dyer Island und Geyser Rock, und um das mitzuerleben, kamen Touristen aus aller Welt zum Käfigtauchen dorthin. Martine wusste nicht genau, wobei es beim Käfigtauchen eigentlich ging, bis ihnen Greg erklärte, dass das Käfigtauchen für Naturliebhaber und Adrenalinsüchtige gleichermaßen eine einzigartige Gelegenheit bot, mit den gefürchteten Meereskillern auf Tauchstation und Tuchfühlung zu gehen. Es gab verschiedene Techniken, doch meistens wurden Stahlkäfige aus zwölf Millimeter dickem galvanisiertem Maschendraht verwendet. Diese zylindrischen Körbe, in die bis zu vier Menschen passten, wurden dann mitten zwischen die fressenden Haie hinuntergelassen, meistens nicht viel tiefer als ein Meter unter der Wasseroberfläche.

      Die Naturschützer seien in Sachen Käfigtauchen geteilter Meinung, sagte Greg. Während die einen die Theorie verträten, dass das Käfigtauchen das Verhalten der Haie veränderte und damit das Risiko von Haiattacken an Badestränden erhöhte, seien die anderen – so auch er selbst als bekennender Haifreund – überzeugt, dass der Kontakt mit Haien in ihrer natürlichen Umgebung den Menschen zeigen könnte, wie einzigartig diese Tiere sind. Filme wie Der Weiße Hai hätten die Meerestiere zu Bestien gemacht, dabei fräßen viele Haie nur Plankton, und auch die Großen Weißen griffen nur äußerst selten Menschen an. Die meisten Unfälle ereigneten sich, wenn Surfer oder Schwimmer von Haien für Robben oder Fische gehalten wurden.

      Greg unterbrach seine Erklärungen, um die Prowler IV neben ein kleineres Boot zu manövrieren, das bereits in der Shark Alley festgemacht hatte. An Bord waren zehn Touristen: drei japanische Geschäftsleute, zwei Deutsche und eine Gruppe jovialer Amerikaner – alle mit Hollywoodgebiss. Sie hatten den ganzen Morgen beim Inseltörn verbracht und waren in bester Stimmung. Nun stiegen sie auf die Prowler IV um, auf der es jetzt etwas eng wurde, und tranken Kaffee und südafrikanischen Rooibostee aus großen Tassen, um sich für das bevorstehende Tauchabenteuer zu stärken. Martine unterhielt sich mit Norm und Mary Weston, einem Ehepaar aus Florida, das mit dieser Urlaubsreise Norms Ruhestand nach einer langen Karriere als Staubsaugerverkäufer feierte.

      «Wir haben uns gesagt: So, jetzt machen wir einmal all das, wofür wir früher zu wenig Mut oder zu wenig Geld hatten», meinte Mary augenzwinkernd zu Martine. «Norm fragte mich, ob ich es nicht einmal mit Käfigtauchen probieren wolle. Darauf sagte ich ihm: ‹Darling, du darfst dich liebend gerne mit Haien im Wassern tummeln, wenn du mich zum Bungee-Jumping und Riverrafting lässt.›»

      Martine machte das Gespräch mit den Amerikanern Spaß, doch als Norm den dicken Taucheranzug, Handschuhe und Stiefel anzog, um sich gegen das eiskalte Winterwasser zu schützen, spürte sie, dass sich hinter Marys Kühnheit auch eine gehörige Portion Angst versteckte. Die Sonne war in den Wollknäueln einer Wolkenbank verschwunden, und das Meer war mehr grau als blau. Es sah nicht besonders einladend aus.

      In der Zwischenzeit hatte Greg eine Mischung aus gemahlenen Fischköpfen und anderen übelriechenden blutigen Zutaten, die man Chum nannte, ins Meer geschüttet, um die Haie zu ködern. Dann half er Norm und drei anderen Männern in den