Lauren St John

Die Nacht der Delfine


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unter die Wasseroberfläche sinken lassen und über Luftschläuche vom Boot aus mit Sauerstoff versorgen. Hinter der großen Taucherbrille war Norms erwartungsvolles Gesicht zu sehen. Man hätte dem 65-jährigen Mann nicht mehr als 45 Jahre gegeben.

      «Dort drüben!», rief Scott Henderson. Sofort stürzten sich alle auf seine Seite, wo ein schwarzer Schatten langsam aus der Tiefe des Ozeans nach oben glitt. Er war so groß, dass Martine ihn zuerst für einen Wal hielt, doch als er näher kam, wurden die unverwechselbaren Konturen eines Hais sichtbar. Ohne Warnung schoss er aus dem Wasser. Kinder und Touristen wichen erschreckt zurück. Während eines furchterregenden Augenblicks blieb er in nächster Nähe so in der Luft hängen, dass er auf dem Boot zu landen drohte. Martine konnte die flache graue Schnauze, die leichenhaften Augen und die nadelscharfen Zahnreihen deutlich sehen. Dann verschwand er mit einer Bauchlandung wieder im Meer und begoss sie mit einer ekligen Mischung aus Chum und Eiswasser.

      Sofort kamen weitere Weiße Haie hinzu, und schon war das Boot von achtzehn Haien umgeben. Ihre schrecklichen Mäuler schnappten nach den Fischen, die in nächster Nähe der Käfige im Wasser schwammen. Martine sah, wie Norm aus der sicheren Warte des Stahlkorbs mit der Unterwasserkamera Bilder knipste.

      Plötzlich machte er keine Bilder mehr und wurde unruhig. Er schien ein Problem mit seiner Luftversorgung zu haben. Gregs Helfer eilte zum Kran, um den Käfig aus dem Wasser zu hieven, und Greg eilte Norm zu Hilfe. Doch noch bevor er bei ihm war, hatte Norm bereits die Einstiegsluke des Käfigs geöffnet, um herauszuklettern.

      «Immer mit der Ruhe, Norm!», warnte ihn Greg, über die Reling hinauslehnend. «Vorsicht, die Haie sind rasend vor Hunger. Es wird dir nichts passieren, aber du musst dir von mir helfen lassen.»

      Norm lächelte tapfer. Er setzte einen Fuß auf den Rand des Käfigs und griff nach Gregs sommersprossiger Hand …

      Als Martine später versuchte, die Ereignisse dieses Vormittags zusammenzufügen, bestätigte sich für sie die gängige Vorstellung, dass Unfälle in Zeitlupe ablaufen. Tatsächlich ereignen sich Unfälle natürlich in wenigen Sekundenbruchteilen, doch werden sie in einer ganz anderen Zeitdimension wahrgenommen. Im ersten Bild sah Martine Norm wie einen schwarz geflügelten Kranich auf dem Käfigrand balancieren und die Hand nach Greg ausstrecken, dann wurde die Zeit schleppend langsam, und Martine sah, wie der vom Sauerstoffmangel unsicher gewordene Amerikaner Gregs Hand verpasste und rücklings in die schäumend schwarze See stürzte.

      Marys Schreie gellten über das Wasser, während die Möwen oben ihre Kreise zogen.

      Als Norm platschend ins Wasser fiel, zerstreuten sich die Haie für einen Augenblick. Mittlerweile war die Szenerie fast unwirklich geworden. Der lächelnde Mann, mit dem Martine vor einer knappen halben Stunde noch Kaffee getrunken und Kekse gegessen hatte, lag jetzt wild um sich schlagend und um sein Leben kämpfend im blutroten Wasser. Konnte das sein? Doch sie war nicht im Kino. Der größte Weißhai, ein bestimmt sieben Meter langes Exemplar, das laut Greg über drei Tonnen schwer war, hatte bereits gewendet, um herauszufinden, ob Norm essbar war. Im Boot herrschte das blanke Chaos. Greg versuchte, für Ordnung zu sorgen, während sein Helfer mit einem Bootshaken in den Händen über die Reling hinauslehnte, um den Hai, sollte er in Reichweite kommen, an seiner empfindlichsten Stelle, der Schnauze, zu treffen.

      Der bedrohliche Schatten umkreiste Norm zweimal. Der Hai steckte seine platte Schnauze aus dem Wasser und öffnete kurz sein Maul, als wollte er testen, wie viel von Norm er mit einem Biss erwischen konnte. In diesem Augenblick sah Martine ihre Chance. Mit ihren grünen Augen fixierte sie die tief liegenden grauen Augen des Hais, sammelte die ganze wütende Energie, die sie aufbringen konnte, und richtete sie in einem gebündelten Strahl gegen das Tier, so wie sie es einmal bei einem Rottweiler getan hatte. Mit ihren Gedanken zwang sie ihn, von Norm abzulassen und stattdessen ein Wesen seines Kalibers zu terrorisieren oder – noch besser – sich eine Planktonmahlzeit zu genehmigen.

      Gerade als der Kopf des Hais unter der Wasseroberfläche verschwand, warf Gregs Helfer den Bootshaken. Doch dieser verfehlte das Tier und trieb in der Strömung rasch davon.

      «STOP!», rief Martine dem Hai in ihrem Kopf entgegen. «STOP!»

      Doch der Hai hatte sich schon in Bewegung gesetzt. Wie ein tödlicher, pfeilförmiger Torpedo schoss er auf den angeschlagenen Mann zu. Kurz bevor er Norm erreichte, riss der Hai sein Maul auf, sodass seine wie Sägeblätter angeordneten Zahnreihen deutlich sichtbar wurden. Gleich würde er Norm einen Arm, den Kopf oder gleich den ganzen Rumpf zerfleischen.

      «STOP», schrie Martine nochmals lautlos in ihrem Inneren.

      Der Hai wandte sich ab und verschwand mit einem gereizten Schlag seiner Schwanzflosse in die unergründliche Tiefe. Die Wellen, die er geschlagen hatte, warfen Norm heftig gegen die Bootswand, wo hilfsbereite Hände ihn sofort aus dem Wasser hievten.

      Mary warf sich dankbar auf ihren Mann und übersäte ihn mit Küssen. «Als du gesagt hast, du wolltest mit Haien schwimmen gehen, wusste ich nicht, dass du das außerhalb des Käfigs machen wolltest», schalt sie ihren Mann mit bebender Stimme, in der aber auch eine Prise Humor und eine große Portion Liebe mitschwangen.

      Eine warme Welle durchfuhr Martine. Sie stieß einen unfreiwilligen Hurraruf hervor, der im allgemeinen Tumult jedoch von niemandem wahrgenommen wurde. Alle redeten wild durcheinander und versuchten zu verstehen, weshalb der Hai plötzlich von Norm abgelassen hatte.

      «Er hat in letzter Sekunde gemerkt, dass du keine Robbe bist, Norm», sagte der sichtlich erleichterte Greg, als er sich aufmachte, warme Tücher und gesüßten Tee für seinen angeschlagenen Kunden zu holen. «Menschen sind nun einmal nicht die Standardnahrung für Haie.»

      «Darüber bin ich aber sehr froh», sagte Norm, dessen Wangen langsam wieder Farbe annahmen. «Wenigstens habe ich jetzt zu Hause etwas zu erzählen.»

      Plötzlich fiel Martine im ganzen Chaos etwas auf. Während alle ihre Aufmerksamkeit auf das glücklich wiedervereinte Touristenpaar richteten, richtete der im Lotussitz auf dem Kabinendach der Prowler IV thronende Ben seine Aufmerksamkeit auf sie. Er lächelte.

      • 7 •

      Am nächsten Morgen lag Martine bäuchlings auf ihrem Kajütenbett an Bord der Sea Kestrel und sah zu, wie die bullaugenförmige Morgendämmerung das Meer in rosa-, aprikosenfarbene und blaue Streifen teilte. Am Horizont war keine Spur von Land zu sehen. Irgendwann im Laufe der Nacht war Afrika davongeglitten und hatte Sawubona, Jemmy und Martines einziges Gefühl von Heimat mit sich genommen. Wieder einmal, wie nach dem Tod ihrer Eltern, war sie ohne Halt und Wurzeln. Eine Fremde in einer fremden, wasserumspülten Welt und völlig im Ungewissen darüber, was die Zukunft wohl bringen würde.

      Und wie fühlte sie sich dabei?

      Bisher eigentlich besser als erwartet. Über Nacht hatte sich ihre Stimmung aufgehellt. Es war beruhigend zu wissen, dass die in ihren Träumen und den Höhlenmalereien vorausgesagte Begegnung mit dem Hai vorbei war und gut geendet hatte. Der Mensch im Wasser war Norm. Sie hatte auch eine einigermaßen logische Erklärung für die von Grace ausgesprochene Warnung mit dem «Schiffszaun», denn der Stahlmaschendraht des Käfigs hatte zumindest eine entfernte Ähnlichkeit mit einem Zaun. Die Haie waren ihr zwar wieder in ihren Albträumen erschienen, doch das war eigentlich nicht weiter erstaunlich, hätte sie doch beinahe zusehen müssen, wie ein Mensch bei lebendigem Leib von einem Hai aufgefressen wurde.

      Am Wichtigsten jedoch war, dass sie dem Schicksal nicht mehr ausweichen musste, nicht zuletzt, weil sie für sich beschlossen hatte, dass nichts und niemand sie während der zehntätigen Seefahrt dazu bringen würde, ins Wasser zu gehen.

      Der Streit mit ihrer Großmutter belastete sie nach wie vor, und sie war immer noch über ihre Zukunft in Sawubona besorgt – schließlich machte ein Leben ohne Jemmy keinen Sinn –, doch da sie mit niemandem darüber sprechen konnte, musste sie sich damit bis zu ihrer Rückkehr nach Kapstadt wohl oder übel abfinden. Miss