wahr, als sie ins Geheime Tal zurückkam. Er schoss davon, noch bevor Martine sicher auf seinem Rücken saß, sodass er sie fast abgeworfen hätte, als er durch den knorrigen Baum preschte. Während sie sich an Jemmys Mähne festklammerte, wurde Martine zum ersten Mal richtig klar, dass sie die weiße Giraffe nie wirklich unter Kontrolle hatte, dass sie sich vollständig auf ihre Beziehung verließ, auf ihr gegenseitiges Vertrauen, auf Jemmys gute Absichten. Ohne diese Sicherheiten wäre die Katastrophe abzusehen. Sie sagte sich aber mit Nachdruck, dass nichts dergleichen geschehen würde. Und so lehnte sie sich vorwärts und genoss den Rausch des gefährlichen Ritts, während die dunklen Umrisse einer grasenden Büffelherde an ihr vorbeischossen.
Als Jemmy schließlich im Wäldchen beim Wasserloch zum Stehen kam, rutschte Martine seinen Rücken hinunter und umarmte ihn. Sein Hals war schweißnass. Nun beugte er sich zu ihr herab und gab seine leisen, flatternden melodischen Laute von sich. Martine versuchte ihm – so gut es ging – zu erklären, dass sie für eine Weile weggehen müsse, dass sie ständig an ihn denken würde und ihn von ganzem Herzen liebte.
Dann sperrte sie das Tor zum Reservat hinter sich zu und rannte durch die Mangobäume und wohlriechenden Gardenien zum Haus. Als sie die Hintertür öffnete, kam es ihr vor, als würde die Stille des Hauses ins Freie dringen und sie einhüllen. Weil ihre Nerven vom wilden Ritt immer noch strapaziert waren, ahnte sie Schlimmes. Sie betrat die Küche. Ein Rest von Brathähnchenduft lag in der Luft. Fahles Mondlicht fiel in Streifen über die Bodenfliesen. Martine stahl sich am Schlafzimmer ihrer Großmutter vorbei und die Holztreppe hinauf. Mit jedem Knarren schoss ihr Puls in stratosphärische Höhen. In ihrem Zimmer angekommen, schaltete sie nicht einmal das Licht ein, sondern ließ sich nur auf das Bett fallen und atmete tief durch.
Als sie dabei war, ihre Stiefel aufzuschnüren, beschlich sie das Gefühl, nicht allein zu sein. Ein unterdrücktes Husten zerriss die Stille. Von Panik getrieben schoss Martine auf.
Im Korbstuhl saß eine gespenstische Gestalt.
• 4 •
Martine hörte das Klicken eines Schalters. Aus der Dunkelheit tauchte urplötzlich das Gesicht ihrer Großmutter auf. Im Schein der Lampe sah es gelblich aus, die hohe Stirn war von einem dunklen Schatten überdeckt, und die Falten um Augen und Mund zeichneten sich als tiefe schwarze Furchen ab. Martine stand regungslos da und spürte, wie sich ihre Darmwindungen wie Schlangen krümmten und ihr Magen zu einer harten Kugel verklumpte. Sie konnte fast hören, wie die hauchdünnen Bande zwischen ihr und Gwyn Thomas gewaltsam auseinandergerissen wurden.
«Na, hast du dich amüsiert?», fragte die Großmutter sanft. «Hast du es genossen, glückselig durch den Mondschein zu galoppieren, ganz egal, ob ich wach lag und mir den Kopf darüber zermartern musste, welches Tier dich wohl zuerst zerfleischen, verstümmeln oder aufspießen würde – ein Löwe, ein Nashorn oder ein Elefantenbulle? Zitternd auf den Anruf des Nachtwärters wartend, um zu erfahren, dass du von deiner Giraffe abgeworfen wurdest und dir jeden einzelnen Knochen deines Körpers gebrochen hattest, von einer Kapkobra gebissen, von einem Pavian entstellt oder von einer Hyänenmutter, die ihre Jungen beschützte, zerfetzt wurdest.»
Als gelte es, ihren Standpunkt zu untermalen, brüllte ein Löwe durch die Sternennacht. «Soll ich weiter erzählen?»
«Es tut mir leid», sagte Martine kleinlaut. Sie wusste, dass ihre Großmutter nicht übertrieb. Jedes Mal und vor allem nachts, wenn sie mit Jemmy durch das Reservat ritt, setzte sie sich dem Risiko aus, von einem dieser Schrecken eingeholt zu werden. Das machte die Worte ihrer Großmutter noch unerträglicher.
Wut und Enttäuschung sprachen aus dem Gesicht von Gwyn Thomas. «Nun, Martine, es ist leider so, dass ich mich mit einer Entschuldigung nicht mehr zufrieden geben kann. Als ich herausfand, dass du mich hintergangen hattest, wollte ich dir zuerst verbieten, auf die Klassenfahrt zu gehen …»
Martine hielt den Atem an. Wäre es nicht der Gipfel der Ironie, wenn die von ihrer Großmutter ausgesprochene Strafe darin bestünde, sie von der verhassten Studienreise auszuschließen?
«… aber das», fuhr Gwyn Thomas fort, «das wäre ein Affront gegenüber Miss Volkner und allen anderen, die diese Reise mit so viel Mühe organisiert haben. Abgesehen davon kann es dir nur guttun, eine Weile von Sawubona und der weißen Giraffe getrennt zu sein. Du scheinst jeden Bezug zur Realität verloren zu haben. Du magst vielleicht eine besondere Beziehung zu Jemmy haben, aber er ist und bleibt ein Wildtier, und Wildtiere sind nun einmal unberechenbar. Damit du dich daran erinnerst, verbiete ich dir, in den ersten sechs Wochen nach deiner Rückkehr das Reservat zu betreten, geschweige denn mit Jemmy auszureiten.»
«Nein!», schrie Martine. «Alles, alles, nur das nicht! Ich stehe morgens um fünf Uhr auf und erledige alle Hausarbeiten. Ich spüle das ganze Geschirr, ich bügle alle Blusen, ich miste sogar einen Monat lang die Käfige der Pflegetiere aus. Aber bitte, bitte, nimm mir Jemmy nicht weg. Er braucht mich, und ich kann ohne ihn nicht leben. Lieber sterbe ich.»
Gwyn Thomas ging auf die Tür zu. «Schluss mit dem Melodrama, Martine. Jemmy wird es ohne dich prächtig gehen, und so wie du dich aufführst, sind deine Überlebenschancen viel größer, wenn du dich von ihm fernhältst. Ende der Diskussion. Ich habe gesagt: sechs Wochen ohne Reservat und Jemmy. Punkt. Schluss.»
In diesem Augenblick brachen alle vergessenen Wunden wieder auf: das Gefühl, ihrer Großmutter lästig zu sein, die Erinnerungen daran, von ihr abgewiesen, in ihr Zimmer verbannt zu werden, ihre Enttäuschung darüber, dass sie Jemmy vor gaffenden Touristen zur Schau stellte. All das und das heute an ihr begangene Unrecht ließ sie explodieren: «ICH HASSE DICH, GWYN THOMAS!», schrie sie auf.
Die Großmutter drehte sich abrupt zu Martine um, als wolle sie ihr eine bittere Erwiderung entgegenschleudern. Doch sie schien sich ebenso rasch eines Besseren zu besinnen und ließ die Schultern fallen. «Wir fahren morgen um 8 Uhr los. Ich erwarte dich reisefertig und pünktlich zur Abfahrt.» Dann klickte der Lichtschalter, und sie war weg.
Die Dunkelheit schien auf Martine einzustürzen. Die Nachtgeräusche des afrikanischen Tierlebens – die jagenden Löwen, die Grillen, Frösche und Nachtvögel –, die sie sonst so aufregend und spannend fand, machten die Stille im Haus noch unerträglicher. Die grausamen Worte hingen noch in der Luft. Martine war zwischen Scham und Groll hin und her gerissen. Sie versuchte vergeblich, sich zwei ganze Monate ohne Jemmy vorzustellen: die Schulexkursion und die sechswöchige Strafe. Sie war überzeugt, von Einsamkeit verzehrt zu werden. Die Einsamkeit würde sie Millimeter um Millimeter vertilgen, wie ein fleischfressendes Insekt, bis nichts mehr von ihr übrig war.
Erst gegen Morgen fiel sie in einen unruhigen Schlaf, heimgesucht von Albträumen mit Haien, die sie jagten und ihr dieses Mal näher kamen als je zuvor.
Das Frühstück war eine angespannte und trockene Angelegenheit mit hart gekochten Eiern und Toast. Danach fuhr die Großmutter Martine schweigend zur Schule.
«Während deiner Abwesenheit wirst du ausreichend Zeit und Gelegenheit haben, über dein Verhalten nachzudenken», sagte Gwyn Thomas, während sie Martines Reisetasche aus dem Kofferraum holte. «Und wenn du zurückkommst, müssen wir uns ernsthaft über deine Zukunft in Sawubona unterhalten.»
Lange standen sie sich einfach gegenüber und blickten sich an. Martine wünschte sich nichts so sehr, als von ihrer Großmutter in die Arme genommen zu werden – zum Zeichen, dass sie sie mochte und alles wieder in Ordnung war. Sie wollte bei ihrer Großmutter nicht als schlechtester Mensch dieser Erde gelten. Das alles schmerzte sie so sehr, dass es ihr fast die Brust sprengte. Doch Gwyn Thomas legte nur eine kalte Hand auf ihre Schulter.
«Auf Wiedersehen, Martine», sagte sie. «Auf bald.» Dann bestieg sie ihren klapprigen Datsun und fuhr davon.
Martine musste sich zusammenreißen, um dem Auto nicht hinterherzulaufen. Und so schleppte