Essensduft, doch heute wurde ihr davon beinahe übel. Sie ärgerte sich, dass sie die Frühstückseier hinuntergewürgt hatte.
«Kopf hoch, Martine! Vielleicht passiert es ja doch nicht!», rief Claudius Rapier, der – eine Dose Cola in der Hand – an einem der Holztische herumlümmelte. Seine Freunde lachten lauthals mit.
Martine warf ihm den vernichtendsten Blick zu, den sie zustande brachte. Eigentlich hätte sie ihm gerne gesagt, dass bereits etwas passiert war und dass sie es – abgesehen davon – wie die Pest hasste, wenn andere Leute meinten, sie aufmuntern zu müssen. Doch aus Wortgefechten ging Claudius stets als Sieger hervor.
Claudius war erst seit etwas mehr als einem Semester an der Caracal Junior High School, doch er galt bereits als selbst ernannter Anführer der sogenannten Fünferbande, einer Gruppe der fünf beliebtesten Schülerinnen und Schüler. Er ersetzte Xhosa Washington, der an eine Schule in Johannesburg hatte wechseln müssen, nachdem sein Vater, der Bürgermeister der Stadt, zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden war, weil er dem letzten Wildhüter von Sawubona dabei geholfen hatte, seltene Tiere aus Südafrika hinauszuschmuggeln.
Genau wie Xhosa hatte Claudius eine majestätische Ausstrahlung, doch im Gegensatz zum Sohn des Bürgermeisters war er kein Muskelpaket. Ganz im Gegenteil, er war übergewichtig, oder mit anderen Worten: dick. Doch dies schien ihn nicht zu stören, auch wenn er von lauter Sportstypen umgeben war. Er trug das unentwegte Lächeln eines Menschen auf den Lippen, dem das Schicksal immer hold gewesen war und dem Geld jederzeit Tür und Tor öffnen konnte. Er hatte lange blonde Haare, die in Locken endeten, und – obwohl er sich ausschließlich von Fastfood ernährte, das ihm der Chauffeur der Familie täglich zur Mittagszeit dampfend heiß in die Schule brachte – eine reine Haut, goldgelb mit einem leichten Rotstich. Das Leben war für ihn eine einzige endlose Party.
«He, Martine», rief er ihr nochmals zu, auf ihre Jeans deutend, die an beiden Knien zerrissen waren. «Wir wissen ja, dass du ein Waisenkind bist. Aber musst du dich auch wie eines anziehen?»
Bevor Martine reagieren konnte, gab es am Tisch hinter ihm eine Aufregung. Das üppige Frühstück, das sich Claudius und seine Freunde gerade genehmigen wollten – doppelte Cheeseburger, Donuts mit Marmelade, Schokokekse, Erdbeer-Milkshakes und Caffè Latte in Styroporbechern –, lag zwischen den mit Ketchupflecken übersäten Zeitungsseiten, die sie als Tischdecke benutzt hatten, auf dem Schulhofrasen verstreut.
«Wer war das?», brüllte Claudius, während seine Freunde mit einem Schrei der Entrüstung aufschossen. Martine konnte sich ein Kichern nicht verkneifen, aber im Grunde war sie ebenso verdutzt wie Claudius. Es war windstill, und niemand befand sich in der Nähe des Tisches der Fünferbande. Am nächsten stand noch Ben Khumalo, der geheimnisvolle Junge, der halb Inder, halb Zulu war. Doch er stand mindestens dreißig Meter entfernt und war gerade dabei, einen Anschlag an der Kantinentür zu lesen. Er stand mit dem Rücken zu ihnen, und es sah ganz so aus, als hätte er schon eine Weile dort gestanden. Er kramte einen Stift aus der Hosentasche und schrieb etwas auf ein A4-Blatt, das an die Tür geheftet war.
Ein paar Augenblicke lang starrte Claudius zu ihm hinüber, bis er zu dem Schluss zu kommen schien, dass Ben zu weit entfernt und ein zu großer Feigling war, um eine derart kühne Tat zu vollbringen.
Dann holte er sein Handy hervor. «Moenie, panic nie, meine Freunde», sagte er großspurig. «Keine Panik. Ich bestell gleich Nachschub.»
«Alle einsteigen», dröhnte Miss Volkners Stimme. «Der Bus fährt in fünf Minuten ab.»
«Dann vielen Dank», rief Claudius in die Runde. «Vielen Dank, wer immer du auch sein magst, vielen Dank, dass du mir meinen Morgen verdorben hast.»
Martine war sich nicht ganz sicher, meinte aber, gesehen zu haben, dass Ben ihr kurz zuzwinkerte.
• 5 •
Im Bus nach Kapstadt setzte sich Martine neben Ben. Sie lächelte ihm nur flüchtig zu, als sie sich in den Sitz gleiten ließ. Ben sagte in der Schule kein Wort, und sie respektierte das. Einige glaubten, Ben sei stumm, obwohl andererseits gemunkelt wurde, man habe ihn bei einem ganz normalen Gespräch mit seinen Eltern beobachtet. Martine war auf jeden Fall stolz, in Bens Geheimnis eingeweiht zu sein, denn immer wenn sie miteinander allein waren, sprach Ben ganz normal mit ihr. Ja, er war sogar redegewandter als alle anderen Menschen, die sie kannte.
Die Lehrer nahmen keinen Anstoß daran, dass Ben nichts sagte, denn sein Betragen war in jeder Hinsicht vorbildlich und auch seine Leistungen ließen nichts zu wünschen übrig. Martine hatte ihn nie gefragt, weshalb er sich weigerte, mit seinen Mitschülern zu sprechen, denn sie verstand ihn. Deren Gespräche waren belanglos. Sie redeten über Mode, Popmusik, Fernsehsendungen und das oberflächliche Leben der Prominenten, das Martine nur peinlich fand. Ben verlor kein überflüssiges Wort. Er war ein Naturmensch wie Tendai, der sich draußen am wohlsten fühlte. Für Martine war er ein bisschen wie eine Giraffe, meist schweigsam, dafür aber ziemlich außergewöhnlich.
Mit schnaubenden Druckluftbremsen setzte sich der Bus in Bewegung und fuhr langsam die Straße hinunter durch das mit dem Luchswappen der Schule geschmückte Eingangstor. Hohe Kiefern schossen an den Busfenstern vorbei. Jetzt, da es keine Ablenkung mehr gab, sank Martines Stimmung rapide in den Keller. Die Worte ihrer Großmutter drehten sich unaufhörlich in ihrem Kopf: «Und wenn du zurückkommst, müssen wir uns ernsthaft über deine Zukunft in Sawubona unterhalten.» Was das wohl zu bedeuten hatte? Hatte sie sich vielleicht über Nacht entschieden, nicht mehr für ein elfjähriges Mädchen verantwortlich sein zu wollen und sie stattdessen in ein Kinderheim im grauen, regnerischen England zu verfrachten? In ein Internat? Oder zu Pflegeeltern?
Einen Vorwurf konnte sie ihr auf jeden Fall nicht machen.
Martine wurde es übel, als sie daran dachte, wie sie ihre Großmutter angeschrien hatte wie vom Teufel besessen: «Ich hasse dich, Gwyn Thomas.» Wenn es im Leben doch nur eine Rücklauftaste gäbe! Dann hätte sie sich jetzt ganz anders gefühlt. Klar, sie wäre immer noch sehr verärgert gewesen, weil sie Jemmy nicht sehen durfte, aber wenn sie sich ernsthaft entschuldigt und ihrer Großmutter versprochen hätte, sich nie wieder nachts davonzuschleichen, dann hätte diese sich vielleicht nachsichtig gezeigt. Sie hätte vermutlich verstanden, dass der Versuch, sie und Jemmy länger als eine Woche zu trennen, ein ebenso schwieriges Unterfangen war wie die Trennung von siamesischen Zwillingen.
So hätten sie und Gwyn Thomas sich beim Abschied umarmen und anlächeln können, beflügelt vom Hochgefühl, das sie nach der Rettung des Delfins erfüllt hatte. Ihre Großmutter hätte nicht mit dem Eindruck zurückbleiben müssen, dass sie sie hasste, was ja überhaupt nicht stimmte. Im Gegenteil, sie liebte sie. Sie hatte einfach nie den richtigen Augenblick gefunden, es ihr zu sagen.
Durch einen Tumult im hinteren Teil des Busses wurde Martine jäh aus ihrem Tagtraum gerissen. Die meisten Mitschüler waren von den Sitzen aufgesprungen. Sie zeigten auf die Straße und schrien aufgeregt durcheinander.
«Was ist los?», rief Miss Volkner. «Wir sind eben erst durch das Schultor gefahren, und schon geht hier alles drunter und drüber.» Sie drängte die Kinder auseinander. «Was in aller Welt …?»
Martine drehte sich um und sah zu ihrer großen Verblüffung durch das staubverschmierte Busfenster … Grace dem Bus hinterherlaufen. Mit weit ausholenden Gesten versuchte sie, den Fahrer zum Halten zu veranlassen. Sie schien etwas in den Händen zu tragen. Für eine Frau ihrer Ausmaße bewegte sie sich erstaunlich schnell und sogar anmutig. In ihrem traditionellen afrikanischen Kleid, das scharlachrot, orangefarben und schwarz in der Luft flatterte, war sie ein durch und durch außergewöhnlicher Anblick.
Martine fühlte sich plötzlich erleichtert. Vielleicht wollte Grace ihr ja eine Botschaft ihrer Großmutter überbringen. Hastig öffnete sie ein Seitenfenster und rief hinaus: «Grace!»
Miss Volkner legte die Stirn in Falten. «Kennst du diese Person?»