die gibt es doch gar nicht!« sagt Kiki der Krankenschwester, die uns über die Formalitäten informiert. »Es gibt nur uns beide!« Die Krankenschwester zuckt mit den Schultern.
»So sind die Bestimmungen.«
»Das ist ja wohl die Höhe.« Kiki bleibt hartnäckig und nähert sich erneut dieser kindlichen Hysterie, die die Krankenschwester dazu bringt, mich leise zu fragen, ob wir ein Beruhigungsmittel brauchen. Und ich, die ich mit einem Mal nicht mehr in der Lage bin, noch einen drohenden Zusammenbruch zu überstehen, und plötzlich von einer pappigen Müdigkeit überfallen werde und nur noch ein Bett haben möchte, um mich darin schlafen zu legen, ignoriere Kikis Proteste und nicke zustimmend. Ich will jetzt weg hier, raus aus dem Krankenhaus und zurück ins Leben, also mache ich mich schnell und mechanisch daran, die Kleidung zusammenzulegen – Khakihose, kurzärmeliges Hemd, olivfarbene Lederschuhe und eine blankgescheuerte braune Wildlederjacke, die er sein ganzes Leben lang getragen hat. Danach packe ich die Sachen vom Nachttisch ein, den Verlaine, den Parkerfüller, den Skizzenblock und die Chinakladde, in die zu gucken ich trotz meiner Neugier nicht schaffe. Jedenfalls nicht jetzt. Das paßt alles in die alte Adidas-Tasche, die er selbst mitgebracht hatte.
»Okay«, sage ich dann zu Kiki, als ich den Reißverschluß der Tasche zugezogen habe. »Wollen wir los?«
Sie nickt, und wir stellen uns noch einmal ans Fußende, beide die Hände wie zum Gebet gefaltet. Ich weiß nicht, was in ihr vorgeht, aber ihre Tränen laufen unaufhörlich wie aus einem Wasserhahn, während ich nicht in der Lage bin, den kleinsten Tropfen hervorzubringen. Ich habe ihm auch nichts mehr mitzuteilen, entweder gibt es zu viele Fragen oder zu wenige Antworten oder der Kontakt ist ganz einfach abgebrochen. Deshalb verliere ich mich in Gedanken, wie ich damals auch nach der Geburt in Gedanken versank. So unfaßbar ... Kiki küßt ihn auf die hohe Stirn, taumelt dann wie betrunken aus dem Zimmer, während ich mich mit einem kameradschaftlichen »Adios!« begnüge, um ihn danach ins Nichts, die Verbannung und das weitere Procedere abzuschieben.
Denn ab jetzt ist der Tod ja in hohem Grad eine praktische Angelegenheit, die Kiki offensichtlich mir zu überlassen gedacht hat. Eigentlich ist sie die bessere Organisatorin von uns, aber ich bin die Ältere. Vielleicht ist das eine Art unbewußter Rache dafür, daß sie mit dem niedrigeren Status der Kleinen aufwachsen mußte, die sie plötzlich in diese hilflose Kleine-Schwester-Attitüde fallen läßt, indem sie ganz einfach keinerlei Initiative ergreift und zu nichts Stellung nimmt. Ich bin es, die vom Schwesternbüro aus anruft und ein Hotelzimmer in der Nähe besorgt. Ich bin es, die sie zum Auto führt und uns eincheckt, als wir gegen halb zwei im Hotel Hvide Hus ankommen. Ich bin es auch, die zwei Zahnbürsten und vier Starkbier beim Nachtportier kauft und Kiki anschließend zwingt, wenigstens eine halbe Schlaftablette zu nehmen.
»Dann nimmst du aber die andere Hälfte!« fordert sie, worauf ich erwidere, daß man nach vierundzwanzig Stunden ohne Schlaf keine Schlaftablette braucht.
»Saustark!« murmelt sie, schluckt eine ganze Tablette und ruft von ihrem Handy aus Spunk an, ihren ulkigen Lover, der, wenn überhaupt etwas, die unverdorbene Lebenskraft symbolisiert. Das Gespräch und sein fürsorgliches Pusten aufs Knie lassen sie erneut in lautes Weinen ausbrechen, so daß ich schließlich den Hörer nehmen und ihm versichern muß, daß Kiki okay ist.
»Aber sie ist ja vollkommen außer sich!« widerspricht er erschrocken. »Soll ich nicht kommen? Ich kann sofort losfahren!«
Ich überzeuge ihn davon, daß sie einfach nur aufgewühlt ist und schlafen muß. Versichere, daß ich ihn wieder anrufen werde, falls sie im Laufe der Nacht nicht zur Ruhe kommt. Was sie aber tut – innerhalb weniger als einer halben Stunde schläft sie tief und fest. Erst da habe ich die Möglichkeit, Paul anzurufen. »Hallo!« meldet er sich schlaftrunken und fern und klingt in keiner Weise alarmiert wie jemand, der dagesessen und auf schlechte Nachrichten gewartet hat.
»Ja, hallo!« antworte ich. »Ich wollte nur sagen, daß es vorbei ist.«
»Ja? Ach so! Entschuldige, Tes, ich bin nicht so richtig wach ... Wie spät ist es denn?«
»Viertel nach zwei«, erkläre ich spröde, während dieser banale Schlagerrefrain sich wieder wie geschmolzene Butter in meinem Kopf ausbreitet. Nimm meine Hand, mein Freund ... »Mein Vater ist vor ein paar Stunden gestorben. Das ist alles, was ich dir sagen wollte. Entschuldige bitte, daß ich dich geweckt habe!« Er könnte alles Mögliche sagen, alles, außer ausgerechnet: »Mein herzliches Beileid.«
Der Leichenbestatter auf Læsø kondoliert auch, als ich ihn am nächsten Morgen anrufe. Aber das ist etwas anderes. Eine einfache Formalität, durch die wir durch müssen, bevor er anfangen kann, sich Notizen zu machen. Erdbestattung oder Einäscherung? Pfarrer? Kirche? Leichenkleider? Schmuck? Sarg? Urne? Wo, wann, wie?
Bei jeder Frage werfe ich Kiki, die mit einer Tasse in der Hand apathisch auf dem Hotelbett sitzt, einen schnellen Blick zu. Ich hatte ihr vorgeschlagen, lieber nach Hause zu fahren und die praktischen Dinge mir zu überlassen, aber sie besteht darauf, zu bleiben und mir zu helfen. Wie erwartet, ist sie nicht gerade eine große Hilfe. Entweder reagiert sie aggressiv und mürrisch, oder sie versinkt in Schweigen und Tränen. Als Dr. Holmstrup im Hotel auftaucht und uns seine Hilfe anbietet, ist deshalb das erste, worum ich ihn bitte, ein Rezept für weitere Schlaftabletten. Das er auch sofort ausschreibt und uns darüber hinaus anbietet, uns nach Læsø zu fahren.
»Das ist nett, vielen Dank. Aber ich bin selbst mit dem Auto da«, sage ich, aufrichtig gerührt über seine Fürsorge. Das wäre nicht nötig gewesen, aber genau wie Kiki offensichtlich den einen oder anderen Faden in die Vergangenheit zurückverfolgen muß, hat er vielleicht auch das Bedürfnis, die Spur erneut dort zu kreuzen, wo Vater damals der Knotenpunkt war. Oder ein Knoten.
Ich bin es, die entscheidet, daß Vater auf Læsø begraben werden soll. Nicht verbrannt, denn das würde Kiki nicht ertragen. Ich glaube, sie würde ihn am liebsten einbalsamieren, in einen Glassarg legen und auf den Tag warten, an dem er plötzlich die Augen wieder aufschlägt. Ihre Reaktion erschreckt mich wegen ihrer Fremdheit, und ich traue mich nicht einmal, Spunk zu erzählen, wie krampfhaft tief in sich versunken sie erscheint. Dagegen leugne ich nicht, daß der Todesfall sie überraschend hart getroffen hat, als er am Abend besorgt nachfragt, nachdem sie und ich uns in Großvaters Haus eingerichtet haben. Dort wollen wir bleiben, bis die Beerdigung überstanden ist, und nein, Spunk muß noch nicht herkommen. Es ist besser, wenn er mit Paul und Mutter kommt, die sonderbarerweise ihre Teilnahme an der Beerdigung auch angekündigt hat. Genau betrachtet finde ich ein offizielles Begräbnisarrangement reichlich pathetisch, wenn man alles in Betracht zieht. Jedenfalls war es mein fester Beschluß, daß der Mann ohne jede kirchliche Feierlichkeit in die sandige Erde der Insel gebettet werden sollte. Ich meine, wenn es etwas gibt, vor dem er ganz offensichtlich geflohen ist und gegen das er opponiert hat, dann war das Großvaters strafender Jahwe und der mittelalterlich finstere Glaube. Aber dann sucht uns der Pfarrer kurz nach unserer Ankunft auf, als wir gerade Wasser für Kaffee auf einem altmodischen Gaskocher aufgesetzt haben. Der Pfarrer entpuppt sich als Frau mit Kurzhaarfrisur, sonnengebräuntem Teint und einem festen Händedruck, als sie sich vorstellt und ihre Anteilnahme ausdrückt. Eva heißt sie und bewegt sich offensichtlich vertraut in den kleinen Zimmern unter dem tiefgezogenen Strohdach. So ist sie es auch, die weiß, wo die Kaffeetassen stehen, als Kiki sie sucht.
»Ihr Vater war ein tief gläubiger Mensch«, sagt sie, als wir an dem alten Holztisch sitzen.
»Gläubig?« wiederholt Kiki und bekommt fast den Kaffee in den falschen Hals. »Woran hat er denn geglaubt? An Fidel Castro? Oder an den Geist aus der Flasche?«
Die Pfarrerin lächelt entwaffnend.
»Ich weiß, daß das seltsam klingt. Vielleicht sollte man lieber sagen suchend. Er war äußerst bibelkundig – überhaupt sehr belesen. Bewandert in Philosophie wie in Literatur. Ich habe Dostojewski noch nie so gut interpretiert gehört. Skaarup war gleichzeitig mein kritischster wie auch mein inspirierendster Zuhörer. Er ist fast jeden Sonntag in die Kirche gekommen. Und nach dem Gottesdienst sind wir zu mir gegangen. Oder wir haben hier gesessen. Haben geredet und geredet. Das war ungemein stimulierend«, sagt sie und hebt die abgeschlagene Tasse an die Lippen. Die sind schön, voll