Hanne-Vibeke Holst

Sag jetzt nichts, Liebling


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      Die Krankenschwester wirft einen schnellen Blick auf ihre Uhr. »Der Spätdienst ist schon gekommen, also ... Ja, ich weiß selbst sehr gut, daß es für den Angehörigen irritierend ist, wenn wir mitten im Sterbeprozeß das Personal wechseln. Aber ... der Kindergarten schließt. Deshalb ...«

      Sie drückt zuerst seinen Arm leicht, danach streift sie auch meinen Arm, und dann ist sie mit einem leichten »Machen Sie es gut!« draußen. Aus irgendeinem Grund ist ihr Abschied mit diesen Gesten kaum erträglich, und als Kiki Gott sei Dank kurz darauf wieder hereinkommt, bin ich es diesmal, die schluchzend dasteht.

      »Entschuldige«, murmelt sie und wirft ein paar Zeitschriften und Tüten mit Süßigkeiten auf den Tisch. Sie muß beim Kiosk gewesen sein. So war das immer mit ihr. Junkfood jeder Art, doch nie die echten Drogen, das war schon früher ihre Nervenmedizin.

      »Ist schon in Ordnung«, sage ich. »Hauptsache, du bleibst hier.«

      Sie nickt und setzt sich auf den Stuhl. »Selbstverständlich.«

      »Es wird nicht mehr lange dauern. Nur noch wenige Stunden, sagen sie.«

      Sie nickt wieder, schlägt eine Zeitschrift auf und reißt mit den Zähnen eine Tüte Weingummis auf, während ich zur Wasserschale zurückkehre, das Tuch auswringe und meine Pflege des Sterbenden wiederaufnehme. Und so widmen wir uns wie zwei Schwestern in einem Tschechow-Drama unserer jeweiligen Beschäftigung, während die Stunden verrinnen oder die Zeit still steht und der Tag unmerklich in die Dämmerung und den frühen Abend hinübergleitet. Ab und zu lösen wir einander wortlos ab, sie steht auf vom Stuhl, setzt sich an den Bettrand und nimmt das Tuch, die Vaseline oder wechselt das Wasser, während ich auf dem Stuhl sitze und zerstreut die Herbsthochzeiten des Jet-set Revue passieren lasse, die großen Roben des Königshauses und den letzten Klatsch von der Fernsehfront. Paul ist natürlich auch dabei – in einem Bericht darüber, wie bekannte Leute ihre Sommerferien verbracht haben. Auf dem Foto hat er Zarina an der Hand, und die beiden essen jeder ein Riesensofteis – die Kulisse bildet ganz offensichtlich Tivoli mit dem chinesischen Turm im Hintergrund. Beide sind braun von der Sonne, lächeln leicht und strotzen vor Selbstzufriedenheit. Ganz offensichtlich genießen sie einen Tag ohne Mutter, die ja auch nur sauer wäre und nie akzeptiert hätte, daß die Familie ihr Privatleben zur Schau stellt, indem sie für den Fotografen posiert. Das Foto ist groß zwischen den anderen einspaltigen und zweispaltigen Berichten plaziert, und das kann ich gut verstehen, denn sowohl Vater als auch Tochter haben genau das, was die modernen Stars ausmacht: den Siegerlook, dieses unwiderstehliche Charisma, das Kameralinsen und Popularitätsbarometer zum Schmelzen bringt. Manchmal beunruhigt es mich, daß meine Tochter so offensichtlich von innen heraus strahlend geboren wurde, aber im Augenblick werde ich selbst von dem Bild eingefangen und spüre diesen Sog, der von ihr ausgeht, die Sehnsucht nach ihren klebrigen Fingern, dem runden Körper und den pummeligen Füßen in den bunten Sandalen. Adorable, wie sie es in Hollywood nennen würden. Ihrem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten, wie meine Mutter, die Diva, es nennt.

      Wir reden nicht viel, Kiki und ich. Warten nur, fallen in uns selbst zurück, sehen ihn an und horchen auf das beschwerliche Zischen seiner Atemzüge. Halten selbst die Luft an und zählen, wenn wir lange auf den Seufzer warten müssen, der uns sagt, daß er noch einmal wieder aufgetaucht ist wie ein Wal aus der Tiefe, um mehr Sauerstoff für den nächsten Tauchgang zu holen.

      »Von wem sind denn die Blumen?« fragt Kiki irgendwann. Und ich antworte, daß sie vielleicht jemand vom Personal reingestellt hat. Aus einem anderen Zimmer.

      »Kann man die nicht wegtun?« fragt sie und steht übelgelaunt auf. »Die stinken doch. Das ganze Zimmer stinkt!«

      Aber sie läßt sie stehen. Weiß genau wie ich, daß der Gestank nicht von ihnen kommt. Nicht dieser Gestank.

      Die Abendschwester kommt herein, wechselt den Tropf und fühlt den Puls. Sehr still und zurückhaltender als ihre Kollegin. Der Oberarzt, Niels Holmstrup, taucht in Zivil auf, in langer Lederhose und einem eleganten Sweatshirt mit Polokragen. Er stellt sich Kiki vor, ist kurz davor, schon im voraus zu kondolieren, steht eine Weile da und lauscht und legt schließlich seine Hand auf die seines Jugendfreunds.

      »Tja«, sagt er. »Alter Kumpel ...«

      Dann sammelt er sich und bestätigt das, was wir bereits wissen. Daß es bald vorbei sein wird. Leider hat er jetzt einen Termin, aber er gibt uns einen Zettel mit seiner Handy-Nummer und hinterläßt ein »Ruft auf jeden Fall an« ...

      Wir sind wieder uns selbst und diesem aussichtslosen Warten überlassen, bei dem nur kleine Zeichen das langsame Fortschreiten der Zeit signalisieren. Die glühende Scheibe der Sonne hinter der zugezogenen Gardine. Das laute Singen der Vögel in der einsetzenden Abendstille. Das Schlagen einer Autotür auf dem Parkplatz. Ab und zu sehe ich auf die Uhr. Zarinas Bettzeit. Die Nachrichten. Zarinas Schlafenszeit. Das Fernsehjournal. Wieder Nachrichten. Und dann die letzten Abendstunden, in denen ich sonst immer die Wäsche zusammenlege, eine neue Maschine anstelle, Birgitte anrufe. Schließlich die kostbare Stunde, in der ich eigentlich schon im Bett liegen sollte, aber manchmal, vor allem, wenn Paul in Odense ist, mir noch eine Stunde auf dem Sofa stehle, mit einem Cognac, einem Stapel internationaler Zeitschriften und zwei Wochen alter Sonntagszeitungen oder ein paar Videobändern, die ich zum Durchsehen mit nach Hause genommen habe. Wenn ich allein zu Hause bin, kommt es vor, daß ich dort auf dem Sofa einschlafe, um erst mitten in der Nacht verwirrt und gerädert wieder aufzuwachen. Wenn Paul zu Hause ist, schläft er oft auf dem Sofa ein, und ich bin es, die sich ins Bett schleicht, ohne ihn aufzuwecken. Aber ich decke ihn immer mit Tante Mos alter Wolldecke zu – eines der wenigen Dinge mit Gefühlswert, die ich in unser genau geplantes Heim mit eingebracht habe. Er macht mir jedesmal Vorwürfe, daß ich ihn dort habe schlafen lassen. Er will bei mir liegen, sagt er dann anklagend. Er braucht es, mich zu fühlen. Seine Frau zu fühlen. Ich weiß das. Aber ich bin zu müde. Bekomme von der Nähe klaustrophobische Gefühle. Mir genügt es, ich selbst zu sein, in Ruhe gelassen zu werden, meine eigenen Konturen nach einem Tag voller Anforderungen an mich zu fühlen. Deshalb ist es für mich eine Erleichterung, wenn er eingeschlafen ist und wir damit den Konflikt vermeiden. Ausgesprochen oder unausgesprochen. Und deshalb legt er sich manchmal zu Zarina, wenn er nachts aufgewacht ist. Dann darf ich morgens allein aufwachen und gehe ins Kinderzimmer, um Vater und Tochter in einer verschlungenen Symbiose vorzufinden, als hätten sie sich extra so drapiert, um mich zu strafen.

      Als ich darüber nachdenke, kommt mir plötzlich in den Sinn, daß ich wohl nie bei meinem Vater geschlafen habe. Vielleicht machte er sich nichts aus der Nähe. Oder er wollte keine Kinder im Bett haben. Das war ja vor der Zeit der neuen Väter. Vielleicht interessiert es ihn nicht einmal, daß wir jetzt hier sitzen. Jeder auf einer Seite des Betts, seine Hände in unseren. Das Licht ist inzwischen verschwunden und die Dunkelheit hat den weißen Koloß umhüllt. Wir haben nur die Nachttischlampe eingeschaltet und den Schirm nach hinten geschoben. Er hat eine weitere Grenze überschritten, wir wissen es beide, auch daß er jetzt auf dem Weg in die allerletzte Phase ist. Die Pausen zwischen den Atemzügen werden immer länger. Wir zählen, inzwischen laut, miteinander. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs ... Seine Augenlider rutschen immer häufiger hoch, so daß die milchigen Augäpfel zu sehen sind. Der Halspuls pocht wie der eines Vogeljungen unter der dünnen Haut. Die Temperatur fällt und die Blässe wird tiefer. Er hat angefangen, leise zu röcheln, und unruhige Wellen huschen über sein Gesicht.

      »Meinst du, daß er Angst hat?« flüstert Kiki.

      Ich zucke mit den Schultern. Vielleicht hat er Angst. Vielleicht hat er deshalb noch nicht losgelassen. Ich stehe auf. Vielleicht müssen wir ihn auf den Weg schicken. Müssen wir ihm beim Abschied helfen.

      »Vater«, sage ich und räuspere mich. Ich beuge mich über sein Ohr, ohne seine Hand loszulassen.

      »Vater, du brauchst keine Angst zu haben. Wir sind bei dir, Kiki und ich. Du kannst jetzt ruhig loslassen. Du mußt nicht länger hierbleiben. Wir kommen schon zurecht.«

      Meine Stimme wird belegt, ich lehne meine Stirn an seine Schläfe, warte, um den Mut aufzubringen, das zu sagen, was ich sagen will. Kiki anzusehen traue ich mich nicht, aber ich spüre ihre Konzentration wie ein elektrisches Zittern im Zimmer. Jetzt ist es soweit. Nun soll es sein.