für einen Augenblick, damit ich sicher sein kann, daß er mich gesehen und wiedererkannt hat, nur ein einziges Mal, nur ein allerletztes Mal.
»Ist er tot?« Die Stimme klingt kindlich und verlassen, nüchtern und voller Angst, und ich habe sie das letzte Mal so gehört, als sie elf oder zwölf und noch ein kleines Mädchen war, das sich bemühte, sich selbst etwas vorzumachen.
»Kiki!« rufe ich ungläubig aus und traue meinen eigenen Augen nicht.
»Ist er tot?« wiederholt sie mit dem brutalen Mut, den Realitäten ins Auge zu sehen, den ich immer an ihr bewundert habe.
»Nein«, antworte ich und umarme sie, erleichtert und froh darüber, daß sie hier steht und meine Schwester ist, seine jüngste Tochter und die einzige auf der ganzen Welt, mit der ich das hier teilen kann.
»Ich habe mit Paul geredet. Er hat gesagt, es wäre kurz davor. Sie haben für mich ein Flugzeug fünf Minuten aufgehalten. Ich mußte einfach kommen«, sagt sie und bricht plötzlich in Tränen aus, schluchzend, das Gesicht an meiner Schulter.
»Ja«, nicke ich und streichle ihr über ihre sommerlich hellen Haarstoppeln. »Du mußtest kommen. Ich hätte dich noch mal anrufen sollen.«
So stehen wir eine ganze Weile da, dicht beieinander, wir Schwestern, bis sie sich frei macht, ein Papiertaschentuch aus der Hosentasche ihrer engen Jeans zieht und sich die Nase putzt. Noch ein einzelner Schluchzer, das Kinn trotzig vorgeschoben, dann wendet sie sich dem Bett zu und läßt das Bild auf sich wirken wie etwas, das sie bisher verleugnet hat – das Bild des noch existierenden Vaters. Ich habe keine Ahnung, was in ihr vorgeht, während sie unbeweglich vor der Gestalt steht, von der sie nur noch eine schwache Erinnerung haben kann, weil sie ja noch so klein war, als er aus ihrer Kindheit verschwand und den Keim zu der Schroffheit gelegt hat, die sie noch in den letzten Jahren stur an der Behauptung festhalten ließ, daß ihr Vater schon lange tot sei. Zumindest auf symbolischer Ebene. In den ersten Jahren nach seinem Verschwinden suchte sie Zuflucht in irgendwelchen spektakulären Pippi-Langstrumpf-Geschichten, erzählte, er sei Seemann, würde über die sieben Meere fahren und eines Tages mit einer Kiste voll mit Goldmünzen und einem Affen auf der Schulter heimkehren. Später, als die Lebenszeichen und Ansichtskarten ausblieben und ein Weihnachtsfest nach dem anderen verging, ohne daß er als Weihnachtsmann ins Zimmer trat, hatte er ihren Schilderungen nach in der Biskaya Schiffbruch erlitten, war von Kannibalen auf einer Südseeinsel aufgefressen oder bei einer Messerstecherei in Alexandria umgebracht worden. Die Anregungen dazu bekam sie aus den klassischen Jungenbüchern, die sie auf dem Dachboden der Forstmeisterei gefunden hatte, und während Onkel Erik sich damit amüsierte, ihren Geschichten immer weitere phantastische Details hinzuzufügen, zerrissen sie Tante Mo das Herz. Und das um so mehr, als sie sie nach einer feurigen Prügelei auf dem Schulhof verbinden und mit Jod bepinseln mußte, wo Kiki in regelmäßigen Abständen Amok lief, wenn sie wegen der Märchen über ihren Vater geärgert und verhöhnt wurde. Wobei ich ihr nur selten zu Hilfe kam, im Gegenteil, wenn das Gerücht die Runde machte, daß Kiki mal wieder verprügelt wurde, versteckte ich mich lieber auf dem Klo. Dafür versuchte ich sie anzuflehen, zu zwingen oder zu bestechen, damit sie endlich ihren hoffnungslosen Traum aufgebe, aber sie hielt hartnäckig an ihm fest, bis sie in die Klauen so eines frisch ausgebildeten Schulpsychologen kam, der wollte, daß sie malte und erzählte. Da klappte Kiki zu, sprach nie wieder von Schiffbruch oder Negerkannibalen, ließ die Provokationen der anderen Kinder an sich abprallen und hatte offensichtlich mit sich selbst abgemacht, ihren Vater nunmehr für tot zu erklären. Und damit basta.
Wie und wie oft das Gespenst dennoch in ihr herumgegeistert ist, kann ich nicht sagen, aber als ihre Lippen trotz ihrer erzwungenen Samuraikontrolle erneut zu zittern beginnen, weiß ich, daß der Eisblock, in dem es eingekapselt war, nicht mehr durch und durch gefroren ist.
»Kann er was hören?« fragt sie. »Ich meine, kann er uns hören?«
»Vielleicht. Der Hörsinn ist das letzte, was verschwindet«, erkläre ich. »Du kannst gern mit ihm sprechen.«
Sie nickt stumm und bleibt unverwandt stehen. Die Hände auf das Fußende des Bettes gestützt.
»Arschloch«, sagt sie dann. Laut und deutlich, direkt an den Sterbenden gewandt. »Du verfluchtes, stinkiges Arschloch!« Ich unterdrücke einen erschrockenen Ausruf, und mir scheint, als würde sein Atem in einem jähen Seufzer stocken, bevor er angestrengt wieder einsetzt.
»Das stimmt doch, das ist er doch!« sagt sie und wendet sich entrüstet mir zu, während sie sich wieder die Tränen mit einem knabenhaften Handrücken wegwischt.
»Mußtest du ihm das ausgerechnet jetzt sagen?« frage ich leise.
»Ja, entschuldige bitte, wann denn dann?« Sie sieht mich trotzig an. »Bald ist es zu spät, und er soll es verdammt noch mal wissen!«
»Warum eigentlich? Er weiß es doch!« erwidere ich und werfe einen schnellen Blick aufs Bett. Wieder dieses Stocken im Atemrhythmus.
»Wirklich?« fragt sie rhetorisch. »Hat er sich entschuldigt? Hat er dich um Verzeihung gebeten? Hat er überhaupt einmal eingesehen, was er gemacht hat?«
»Was hat er denn gemacht?« frage ich, plötzlich an der Schwere des Verbrechens zweifelnd. Wenn es denn überhaupt stattgefunden hat.
»O Scheiße, Therese! Du bist doch immer die Kluge? Warum redest du dann jetzt so einen Mist? Ist es etwa in Ordnung, seine Kinder in der Art und Weise im Stich zu lassen? Einfach die Tür hinter sich zuzuschmeißen, ohne sich umzusehen? Na?«
»Wer sagt denn, daß er nicht zurückgeguckt hat?« sage ich jetzt, in meiner Rolle der Verteidigerin in Fahrt gekommen.
»Das hat er verflucht noch mal nicht! Wir haben jahrelang nichts von ihm gehört!«
»Aber das bedeutet doch nicht, daß er uns vergessen hat, Kiki! Er hat uns auch vermißt! Er hat die ganze Zeit an uns gedacht. Die ganzen Jahre lang!«
»Woher weißt du das?« fragt sie. »Hat er das gesagt?«
»Nein«, erwidere ich ausweichend und spüre, wie sich die heiße Welle von der Herzregion aus, wo der Schuß eingedrungen ist, im ganzen Körper ausbreitet. Er hat es nicht gesagt. Nicht so. Nicht direkt.
»Und woher weißt du es dann?« Kiki läßt nicht locker, und diesmal bin ausnahmsweise ich die Kleine, während sie die Große darstellt.
»Seine Kinder kann man nie verlassen«, behaupte ich, ausnutzend, daß ich eine Erfahrung habe, auf die ich mich berufen kann, die sie nicht hat. »Vielleicht kann man sie physisch verlassen. Aber sie folgen einem überall hin.«
»So ein Scheiß!« faucht sie. »Männer können das. Sie konnten es immer schon.«
Dann dreht sie sich um und verläßt das Zimmer, während ich mit einer ganz neuen Meinung von meiner Schwester zurückbleibe. Sie ist nicht mehr klein. Kiki ist erwachsen geworden. Und beinahe ohne daß ich es mitbekommen habe.
»Kiki!« rufe ich und möchte am liebsten hinter ihr herlaufen, um sie in den Arm zu nehmen. Sie darf nicht wieder gehen, nicht jetzt schon. Ich schaffe es nicht länger, hier allein zu bleiben, aber ich traue mich nicht, das Zimmer zu verlassen, und klingle statt dessen nach der Schwester, um irgendeine Form von Hilfe zu bekommen.
»Ja?« fragt die Krankenschwester, als sie herbeigeeilt kommt. »Ist was nicht in Ordnung? Hat er Schmerzen?«
»Nein«, sage ich. »Aber irgendwas ist mit der Atmung. Sie wird immer angestrengter. Der Rhythmus ist anders geworden.«
Sie nickt ernst.
»Ja, das ist so. Die Pausen werden immer länger werden und schließlich ...«
Sie breitet die Arme in einer kleinen, unbestimmten Bewegung aus. Es ist unnötig, den Satz zu beenden.
»Dann ist es bald soweit?« frage ich.
Die Krankenschwester nickt traurig. »Es wird nicht mehr lange dauern. Nur noch wenige Stunden.«
»Aber es sieht doch nicht aus, als müßte er leiden, oder?« Nein, es sieht nicht so aus, als müßte er