Hanne-Vibeke Holst

Sag jetzt nichts, Liebling


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kam und ich mich schließlich schluchzend an ihrem frisch gebügelten Hemdblusenbusen ausweinen durfte. Erst als er spätabends heimkam, aufgemuntert von einer Vernissage und mit einem Dunst von Rotwein um sich, als er einen Apfel aus der Manteltasche zog und ihn auf meinen Nachttisch legte, da glaubte ich, daß ich doch nicht für alle Zeiten verstoßen war.

      »Klingeln Sie nur, wenn etwas ist«, sagt die Krankenschwester auf ihrem Weg hinaus. Ich nicke und setze mich auf den Stuhl, falte die Zeitung auseinander und überfliege die Nachrichten. Ich habe mich bereits so weit auf meinen eventuellen Job eingestellt, daß ich nach relevanten Blickwinkeln suche, nach Hintergründen und Zusammenhängen in der Flut der Nachrichten, die vielleicht später bearbeitet und zu interessanten Magazinbeiträgen werden können. Deshalb habe ich entgegen meinen Gewohnheiten damit begonnen, schon gleich nach dem Lesen auszuschneiden und zu sortieren, so daß ich mein ganz privates Archiv habe. Natürlich weiß ich genau, daß unsere Ressourcen nicht die Tagesordnung bestimmen können, wir werden in hohem Grad vom Markt definiert – was bieten die großen Networks, welches Team ist schon wo gewesen, was können wir billig kriegen und dennoch so herausputzen, daß es aussieht wie eine Eigenproduktion? Ich habe keine Schere, hole jedoch einen Kugelschreiber zum Markieren heraus und blättere zu den Auslandsseiten. Sie werden vom NATO-Angriff auf die bosnisch-serbischen Stellungen dominiert, und auch wenn es sicher primitiv oder oberflächlich ist, so teile ich allmählich das verbreitete »go-get-them«-Gefühl. Weder die Moslems noch die Kroaten sind reine Unschuldslämmer, aber meine reisenden Kollegen in Sachen Krieg sind mit wenigen Ausnahmen alle der Meinung, daß die Serben zweifellos die größten Aggressoren sind, die bestialischsten Barbaren und die größten und skrupellosesten Lügner.

      »Die müssen zum Frieden gebombt werden«, wie mein desillusionierter Kollege in der Redaktion es ausdrückt. Er ist jetzt drei bis vier Jahre lang zwischen dem Sender und der jeweils spektakulärsten exjugoslawischen Front hin und her gependelt und nach eigener Aussage »fed up«. Seine Partnerschaft ist zerbrochen, sein Zigarettenverbrauch hat sich verdoppelt, und seine Scherze sind immer zynischer geworden, dennoch kommt er nie ohne Paß und kugelsichere Weste zur Arbeit. Allzeit bereit.

      »Was willst du tun, wenn der Krieg zu Ende ist?« habe ich ihn eines Tages gefragt, als er sich wieder einmal auf eine Abreise vorbereitete. »Dann finde ich einen anderen Krieg«, erwiderte er finster. »Du endest noch wie Jan Stage«, kommentierte die Produktionsassistentin. »Ja? Das ist mein größtes Ziel!« grinste er und schlug sich den Kragen seiner Lederjacke bis zu den Ohren hoch.

      Ich weiß nicht, wie viele er schon hat sterben sehen. Ich weiß nicht, über wie viele Leichen er bereits geschrieben hat. Über wie viele Perversionen er sich erbrochen hat oder sie mit dem Whisky der Hotelbar hinuntergespült hat. Aber ich weiß, daß der Tod plötzlich nicht mehr der abstrakte Begriff in einem Zeitungsartikel, in der Bezifferung des Tages-, Wochen- oder Monatsverlusts ist, sondern einem sehr nahe kommt, wenn man ganz dicht bei ihm auf einem Stuhl in einem Einzelzimmer sitzt. Ich ertrage die nüchterne Beschreibung der Strategie der NATO und ihrer wahrscheinlichen Bombenziele nicht. Ich ertrage das grobkörnige Foto von beladenen Jagdbombern nicht, die vielleicht genau in diesem Augenblick dabei sind, serbische Stellungen zu bombardieren. Ich ertrage das plötzlich mir vor Augen tretende Bild von rotem, pulsierendem Blut auf lehmiger Bergerde nicht, das des unrasierten Soldaten, der mit einer Kippe zwischen den Lippen getroffen wurde, das des Hemds, das hochgerutscht ist, und die glatte Haut, die im Fallen bloßgelegt wurde. Apocalypse now. O Scheiße ...

      Ich zucke zusammen, als sich eine Fliege plötzlich von ihrem Stützpunkt hinter der dottergelben Gardine erhebt, schwer und metallisch blinkend, surrt sie gegen die Scheibe.

      »O Scheiße!« wiederhole ich laut, falte die Zeitung zusammen und gebe dieser ohnmächtigen Wut nach, die plötzlich in mir wächst, als ich mich auf die Fliege stürze. Sie weicht aus, ich schlage von neuem zu. Sie weicht aus, ich schlage wieder zu. Fest, hartnäckig und vergeblich, bis ich sie in eine Ecke gedrängt habe und endlich zerquetschen kann. Ich drehe mich um, mit heißen Wangen und dem kribbelnden Gefühl, daß mein sterbender Vater die Augen geöffnet hat und mich jetzt vorwurfsvoll ansieht. Weil ich ihn geweckt habe. Aber er liegt noch genauso still und unbeweglich da wie zuvor, und ich lasse mich auf den Stuhl fallen, wo ich von dem unbändigen Drang nach Schlaf übermannt werde. Also werfe ich ihm noch einen Blick zu und erlaube mir selbst dann zwei Minuten mit geschlossenen Augen. Nur zwei Minuten. Er wird mir doch nicht in den nächsten zwei Minuten wegsterben. Ich erwache mit einem Ruck, als eine Pflegerin mit dem Essenswagen hereinschaut.

      »Möchten Sie das Essen haben?« fragt sie. »Sie können ja seine Portion kriegen.«

      Ich schüttle den Kopf und richte mich auf. Mittagessen! Die Uhr zeigt Viertel nach elf. Ich habe fast zwei Stunden geschlafen. »Lassen Sie es einfach stehen, wenn Sie nichts essen möchten«, fährt sie unbeeindruckt von meinem Schweigen fort und stellt ein Tablett mit einem abgedeckten Metallteller und einem Glas Saft ab. Dann ist sie schon wieder draußen, und ich stehe wie gerädert auf und erschrecke von neuem, als ich meinen Vater anschaue. Als müßte ich das erste Mal dazu Stellung nehmen, als würde ich erst jetzt sehen, daß er es ist, der da liegt und sterben wird. Er holt immer noch leicht wie ein Vogeljunges Atem, aber seine Hand ist kälter geworden, und Schweiß liegt wie Glycerintropfen auf seiner Stirn und an der Nasenwurzel. Wieder hat sich etwas Speichel in den Mundwinkeln gesammelt. Auch wenn es mir eigentlich albern erscheint, ist mir vollkommen klar, daß ich das Tuch nehmen und ihn behutsam abtupfen muß, wie Frauen es seit Tausenden von Jahren getan haben.

      »Schschsch«, mache ich beruhigend wie bei einem fieberkranken Kind, als ich vorsichtig mit einem Zipfel des Tuchs seine Mundwinkel abtupfe. »Ich bin’s, Therese«, murmle ich und beuge mich über sein Gesicht, ziehe mich aber unwillkürlich wieder zurück, als ich von dem faden Dunst der Verwesung aus seinem halboffenen Mund getroffen werde. Der Zusammenbruch ist in Gang, die Auflösung beginnt von innen. Einen Augenblick lang packt mich die Übelkeit, und mir kommt plötzlich in einem Erinnerungsfetzen der Gestank des Todes in den Sinn, der über Nagorni-Karabach hing, der von einem Erdbeben heimgesuchten Enklave in Armenien, aus der zu berichten ich mich als frisch gebackene Journalistin ganz eifrig gemeldet hatte. Damals liefen wir mit einem Tuch vor dem Mund herum wegen der Fliegen, der ansteckenden Krankheiten und auch um das Gefühl zu vermeiden, den Tod einzuatmen. Ein Hardship-Erlebnis erster Klasse, aber mehr auch nicht, denn damals hatten wir den professionellen Abstand und so viele logistische Probleme und Aufgaben, daß wir abstrahieren konnten und uns selbst und unsere Kollegen einfach mit Eau de toilette überschütteten. Aber hier handelt es sich nicht um die Opfer in einem Katastrophengebiet, das hier ist Alltag mitten in der Zivilisation, und sogar hier stinkt der Tod, wie er es immer getan hat. Ich atme tief ein und beuge mich wieder über ihn. Tupfe den Schweiß Perle für Perle ab. Den Nasenrücken, die Augenbrauen, die Stirn, den Hals und schließlich den Teil der Brust, der aus dem Krankenhaushemd herausschaut und der sich unter dem spärlichen Wuchs grauen Haars schnell hebt und senkt.

      Ich kann nicht wissen, ob er irgendein Gefühl der Linderung spürt, da er nicht reagiert. Er ist weit entfernt, und ich bleibe einfach so stehen, über ihn gebeugt, präge mir seine Züge einen nach dem anderen aus nächster Nähe ein. Noch nie war ich ihm so nah, noch nie durfte ich ihn so ungestört betrachten, mich selbst in ihm suchen, Ähnlichkeiten und Unterschiede in der gleichen Art und Weise entdecken, wie man es bei seinem neugeborenen Kind tut, und mich über den genetischen Abdruck wundern, der in den Windungen einer Ohrmuschel, besonders hervorstehenden Rippen oder einem Leberfleck an gleicher Stelle sonderbarerweise sichtbar wird. Einen solchen Leberfleck finde ich bei ihm, direkt unter dem Schlüsselbein, wo er sich auch bei mir befindet. Entstellend im Sommer, wie ich finde, aber unendlich oft von Paul geküßt.

      »Alles in Ordnung?« Die Krankenschwester ist wieder da.

      »Unverändert«, antworte ich und lege das Tuch weg. Sie stellt sich auf die andere Seite des Betts. Überprüft den Tropf, der noch dreiviertel voll ist. Wirft ihm einen prüfenden Blick zu.

      »Dann warten wir noch mit weiteren schmerzstillenden Mitteln. Aber seine Lippen sind ein wenig trocken, nicht wahr? Ich bringe gleich mal ein bißchen Vaseline!« Ein schnelles Lächeln, und weg ist sie. So schnell, daß sie gegen den Nachttisch stößt, so daß ich ganz automatisch nach der Vase mit den ein wenig schlaffen Rosen greife. Es ist der einzige Blumenstrauß