Hanne-Vibeke Holst

Sag jetzt nichts, Liebling


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sagt sie anschließend konstatierend. »Er schläft gut.« In dem Moment huscht ein Ruck über sein Gesicht, und jetzt wird die Stille von einem plötzlichen Nach-Luft-Schnappen durchbrochen.

      »Hat er Schmerzen?« frage ich.

      Die Krankenschwester schüttelt verneinend den Kopf. »Dann würde er sich mehr winden. Unruhiger sein. Er ist schon so weit, daß er nichts spürt.«

      »Haben Sie ihm was gegeben?« frage ich mit einem Blick auf den Schlauch, der an seinem Handrücken befestigt ist und zum Tropfbeutel am Stativ führt.

      »Salzwasser und Glucose. Er hat nur einmal letzte Nacht etwas Schmerzstillendes bekommen, danach nicht mehr. Er wollte gern aushalten, bis Sie kommen«, fügt sie hinzu. Ich nicke. Begreife, daß wir die Grauzone berühren, die inoffizielle Sterbehilfe heißt. Eine extra hohe Dosis Morphin, um die Endphase abzukürzen.

      »Danke«, flüstere ich. »Ist er ganz weggetreten? Oder kann er uns hören?«

      »Sie sollten zumindest davon ausgehen, daß er hören und verstehen kann, was um ihn herum passiert. Sie sollten auf jeden Fall mit ihm reden. Ganz bestimmt erkennt er Ihre Stimme wieder. Die wird ihn trösten. Haben Sie übrigens schon gefrühstückt?«

      Ich schüttle den Kopf, wende meinen Blick wieder dem gestürzten Picasso-Pferd zu.

      »Was halten Sie davon, wenn ich Ihnen Kaffee und Brote besorge?« fragt sie und streift wieder meine Schulter, als sie an mir vorbeigeht.

      »Wenn es möglich wäre«, erwidere ich, »würde ich auch gern mit einem Arzt sprechen.«

      Sie nickt freundlich an der Tür.

      »Ich werde dem Oberarzt sagen, er soll bei Ihnen hereinschauen.«

      Dann bin ich allein. Dann sind wir allein. Ich stelle meine große Tasche hin, ziehe meine alte Jeansjacke aus und setze mich vorsichtig auf die äußerste Bettkante, auf der Seite, wo auch der vollgestellte Nachttisch steht. Mir fällt ein großer Strauß roter Rosen auf, der in einer Krankenhausvase steht. Sonst gibt es keine Blumen, kein Obst, keine Schokolade. Nur zwei kleine Becher mit Medizin. Ein Tuch in einer kleinen Schale mit Wasser. Ein halbvoller Becher mit Deckel.

      Wieder ist ein schwaches Stöhnen zu hören, die Lippen kräuseln sich vorsichtig zu einer Seite, das eine Augenlid schiebt sich ein wenig hoch, so daß ich sein braunes Auge sehen kann.

      »Vater!« flüstere ich und umfasse vorsichtig seinen völlig abgemagerten Arm. Seine Haut ist klamm und kalt, als würde die Kälte ihn bereits von innen durchdringen. Mich überläuft ein Schauder, aber ich lasse meine Hand federleicht liegen, um ihm nicht weh zu tun.

      »Vater«, wiederhole ich und sehe, wie er wieder in Schlaf fällt. »Ich bin es, Therese, ich bin hier. Du brauchst keine Angst zu haben. Ich werde die ganze Zeit hierbleiben.«

      Ich ertappe mich selbst dabei, wie ich den gleichen mütterlichen Ton benutze, mit dem ich Zarina nachts nach einem Alptraum beruhige. Zart und sanft, ja, ja, Mama ist da, Mama paßt auf dich auf. Gleichzeitig vollkommen falsch und genau richtig. Vielleicht habe ich erwartet oder gehofft, daß er auf mirakulöse Weise beim Klang meiner Stimme die Augen aufschlagen würde. Erleichtert und froh darüber lächeln würde, daß seine Tochter schließlich doch noch gekommen ist. Von selbst meine Hand ergreifen würde, sie drücken und all das sagen, was er nie gesagt hat. Ich weiß, das ist der letzte Rest von Kindlichkeit, der kindische Wunsch, daß die Dinge ein einziges Mal wie in altmodischen Romanen enden, in denen das Sterbebett die Bühne für Versöhnungen und Erlösung bildet. Aber das Wunder bleibt aus, es gibt nicht einmal ein Zeichen dafür, daß er mich hört, dort, wo er sich jetzt befindet. Vielleicht erinnert er sich nicht einmal mehr an mich. Vielleicht ist er ganz verschwunden in den tiefsten Schichten der eigenen Kindheit, als ein kleiner Junge mit nackten Beinen, der hinter den Hühnern herläuft und sich im Brombeergestrüpp hinter dem gekalkten Stall versteckt, wenn Großvater ihn bestrafen will.

      »Vater«, sage ich wieder, beuge mich noch weiter über ihn, damit er mich besser hören kann. »Ich bin die ganze Nacht quer durch Jütland gefahren. Der Vollmond schien auf die Felder. Das letzte Getreide ist abgeerntet. Die Stoppeln sind jetzt abgebrannt, an einigen Stellen konnte man es noch riechen. Erika blühte in der Heide. Alles war in Mondschein gebadet. Ich habe sogar eine Schafherde gesehen, die lagerte und schlief. Und ganz früh am Morgen beim Rold Skov sprang mir ein Reh vors Auto. Der Sprung war unglaublich schön, als hinge es in der Luft. Zum Glück habe ich es nicht angefahren. Jetzt scheint die Sonne. Der Himmel ist hoch und extrem blau.«

      Ich halte abrupt inne. Normalerweise rede ich nicht so, in poetischem Telegrammstil. Aber jetzt kommt die Reaktion. Seine Finger krümmen sich ganz schwach unter meiner Hand, seine Augenbrauen zucken, und er stößt eine Art Brummen mit mehreren Silben aus, als versuchte er etwas zu sagen. Aber ich bin mir dessen nicht so sicher, suche beunruhigt Zeichen von Schmerzen.

      »Tut es weh?« frage ich hilflos. »Soll ich lieber nicht weiterreden?«

      Er brummt wieder, immer noch, ohne die Augen zu öffnen, und wieder mit dieser leichten Krümmung der Fingergelenke wie das Kitzeln eines Insekts auf meiner Handfläche.

      »Er versucht Ihnen zu antworten. Reden Sie nur weiter!«

      Da ist die Krankenschwester wieder, an der Tür. Sie lächelt und schiebt einen Teewagen herein mit einer Thermoskanne, einer Kaffeetasse und mit einigen belegten Broten.

      »Sagen Sie nur Bescheid, wenn Sie mehr Kaffee möchten. Und klingeln Sie, wenn sonst etwas ist. Dr. Holmstrup wird gleich vorbeikommen«, sagt sie, stellt den Wagen neben mich und ist im nächsten Moment schon wieder draußen.

      Ich schiele zum Frühstück hinüber. Der Kaffeeduft steigt mir in die Nase, mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Plötzlich bin ich hungrig wie ein Wolf, werde aber vom ehrfürchtigen Respekt vor einem der heiligen Augenblicke des Lebens zurückgehalten. Ist es nicht unpassend, sich gerade jetzt einfach zum Frühstück hinzusetzen?

      Aber da erklingt lautes Lachen vom Flur. Türen schlagen. Ein Radio dringt leise durch die Wand. Die Sirene eines Krankenwagens wird draußen angestellt. Aus dem Nachbarzimmer ist eine WC-Spülung zu hören. Die Geräusche des Fahrstuhls klingen wie dumpfes Dröhnen. Die Welt hält nicht die Luft an. Die Welt ist ein einziger großer Organismus, der ißt und trinkt, scheißt und schläft, liebt und streitet. Immer. Und mein Vater ist wieder in sich versunken. Seine Hand ist schlaff unter meiner, sein Gesicht ist zur Ruhe gekommen. Der Puls pocht schnell unter der dünnen Haut seines Halses. Seine Atemzüge sind leicht und regelmäßig. Ich mache vorsichtig meine Hand frei, stehe auf, schenke mir Kaffee ein, setze mich in den Besucherstuhl und mümmle alle drei Scheiben mit Käse und Marmelade in mich hinein. Schwarzbrot und Weißbrot und noch mehr Kaffee. Ich denke über das Bizarre der Situation nach und werde noch mit vollem Mund erwischt, als ein Mann mittleren Alters in weißem Kittel eintritt. Oberarzt Niels Holmstrup kann ich auf seinem Schild lesen, bevor er sich selbst vorstellt, während ich verwirrt aufstehe und seine ausgestreckte Hand ergreife.

      »Sie sind also Skaarups älteste Tochter?« fragt er, und ich nicke und breite entschuldigend die Arme aus, weil ich immer noch nicht hinuntergeschluckt habe.

      »Therese, nicht wahr? Sie sind doch die aus dem Fernsehen, oder?«

      »Entschuldigung«, ich nicke in Richtung des leeren Tellers. »Ich bin die ganze Nacht gefahren.«

      »Keine Ursache«, sagt er freundlich. »Schließlich nützt es nichts, wenn Sie vor Hunger sterben, oder? Ihrem Vater geht es ja nicht so gut«, erklärt er dann und wendet sich dem Bett zu. Er umfaßt sanft den Fuß des Patienten; es wirkt wie ein aufmunterndes Streicheln. »Nun, ich weiß ja nicht, wie genau Sie vorher über die Krankheit Ihres Vaters im Bilde waren.«

      »Nicht sehr gut«, muß ich zugeben. »Er hat mir vor kurzem geschrieben, er hätte einige ›Zipperlein‹...«

      Der Oberarzt lächelt verschmitzt.

      »Typisch Skaarup«, sagt er. »Ja, wir sind nämlich zusammen zur Schule gegangen. Ins Gymnasium von Frederikshavn. Bis er alles hingeschmissen hat und nach Kopenhagen abgehauen ist. Er war Læsøs Enfant terrible.