Alltag auf Læsø kannte, hat er im großen und ganzen ziemlich zurückgezogen gelebt. Mal ein paar Worte mit dem Briefträger gewechselt, dem Nachbarn, dem Bienenzüchter zugenickt und seinen Kontakt zu den anderen Kunden in den Läden auf der Ebene der Allgemeinplätze gehalten. Man kann also sagen, daß der verlorene Sohn in einer sehr viel scheueren und zurückhaltenderen Ausgabe heimgekehrt ist als das dröhnende Enfant terrible, das der Insel vor dreißig, vierzig Jahren den Stinkefinger zeigte. Das auffallendste an dem Blumenstrauß ist deshalb, daß er überhaupt hier ist. Daß ihm jemand einen Strauß geschickt hat. Es steckt keine Karte drin. Vielleicht ist er ja von seinem alten Freund, dem Oberarzt. Oder hat etwa das Personal in seiner allumfassenden Fürsorge einen Strauß, der übrig war, hier hineingestellt? Das Erbe eines Verstorbenen. Aber Rosen? Eigentlich ziemlich unpassend. Und außerdem stinken sie, süß und aufdringlich. Ich hätte nicht übel Lust, sie wegzuwerfen, doch anstandshalber muß man sie wohl stehen lassen. Also schiebe ich die Vase nur sicherheitshalber ein wenig weiter auf den schmalen Beistelltisch, der ansonsten von einem Stapel Zeitschriften, Zeitungen und Büchern bedeckt ist. Ich zögere einen Moment, erlaube mir dann jedoch, den Stapel durchzublättern. Die Zeitung Politiken, ein eine Woche altes und bereits vergilbtes Exemplar der spanischen Zeitung El Pais, Dostojewskis Schuld und Sühne und der mittlerweile zerschlissene und mit Klebeband umwickelte Band mit Gedichten von Paul Verlaine, den mein Vater immer bei sich hat. Das war eins der wenigen Dinge, die er mir über seine überstürzte Flucht von zu Hause und seine jahrelange Irrfahrt danach anvertraute, als ich damals in unseren gemeinsamen Tagen auf Læsø versuchte, ihn dazu zu bringen, mir seine Geschichte zu erzählen. Daß Paul Verlaine immer dabei war. In der Brusttasche. Und der Skizzenblock natürlich, sowie ein alter Parker-Füller, den er wunderbarerweise sein ganzes Leben lang behalten hatte. Diese drei Dinge, Verlaine, der Skizzenblock und der Füller, bildeten, soweit ich verstanden habe, seine Lebensleitlinie. Sie waren wichtiger als alles andere. Wichtiger als wir, wichtiger als ich. Und natürlich liegt der Skizzenblock auch hier, an zweiter Stelle im Stapel. Er muß Hunderte davon haben, vollgemalt und immer wieder ausgetauscht gegen einen neuen mit Spirale und leeren Seiten für Notizen, Skizzen und schnell zu Papier gebrachten Gedanken. Denn auch wenn er eigentlich bildender Künstler war, weiß ich, daß er immer vom Wort fasziniert war. Besonders in der Periode der Røde Mor, als »Arbeiter vereinigt euch « und andere revolutionäre Aufrufe und Parolen als Plakatgrafiken bombastisch in Schwarz und Rot ausgeschnitten wurden. Aber ich habe auch ein Bild von ihm in Erinnerung, wo er am Tisch in der Havnegade sitzt, spät in der Nacht, wenn ich, während die anderen schliefen, aufstand, um etwas zu trinken. Er spielte leise seine zerkratzten Jazzplatten und saß mit einem Rotwein im Senfglas, einer glühenden Zigarre in der einen Hand und dem Füller in der anderen da und schrieb, sicher beschwipst, aber ruhiger und mehr in sich selbst ruhend, als ich ihn jemals zuvor gesehen hatte. Manchmal stand ich nur still da und beobachtete ihn, bis ich unentdeckt wieder schlafen ging. Andere Male näherte ich mich ihm vorsichtig und aufmerksam, bis er mich bemerkte und aufsah, mit fernem, verhangenem Blick. Ein einziges Mal nur fragte ich, was er da schreibe. »Gedanken«, antwortete er nur und beugte sich wieder über den Block. Vaters Block war immer unantastbar, selbst Mutter mußte lernen, ihre Neugier zu zähmen. Und sogar bevor er in die Wehrlosigkeit des Komas glitt, hat er dafür gesorgt, eine verschämte Chinakladde und obenauf den Parker-Füller genau auf der Mitte des Notizblocks anzubringen. Wie ein Cherub liegt er dort und hält Unbefugte von dem Heiligen Gral fern. Also schaue ich nicht nach, auch wenn es mir in den Fingern juckt. Ein kleines Buch voll mit Gedanken! Ich weiß ja so wenig.
»So!« Die Krankenschwester ist wieder da, mit einer kleinen Tube in der Hand. »Hier ist Vaseline! Wollen Sie ihn selbst einreiben?« Ich zögere, während ich versuche herauszukriegen, ob sie irgend so ein therapeutisches »Lerne-den-Sterbenden-zu-lieben«-Projekt vorhat, aber eigentlich erscheint sie nur freundlich aufmerksam. Es sieht so aus, als wolle sie mir nicht das Pflegeprivileg der Angehörigen entziehen. Deshalb nehme ich die Tube, sie gibt mir ein paar kurze Anweisungen und entschuldigt sich, daß sie etwas in Eile ist. Ich weiß nicht, warum ich plötzlich so aufbrause, es ist ganz unnötig, und ich bereue es schon in dem Moment, als ich meine eigene scharfe Stimme höre: »Ja, es ist aber auch einfach zu stressig mit all den Sterbenden!« Sie bleibt abrupt stehen, dreht sich direkt zu mir, überlegt und antwortet schließlich ungekünstelt spontan.
»Das ist es wirklich! Denn jedesmal tut es weh. Besonders, wenn es eigentlich noch zu früh ist«, erklärt sie und läßt ihren Blick einen Augenblick auf dem Bett ruhen, bevor sie wieder ganz professionell wird und zum Essenstablett hinüber nickt. »Haben Sie etwas gegessen?«
Ich schüttle den Kopf. Ich kann nicht. Die Übelkeit kommt wieder hoch.
»Das ist kaltes Essen. Wir können es einfach stehen lassen. Es ist gut, etwas zu essen, auch wenn man meint, man kriegt nichts runter. Und draußen auf dem Flur steht frischer Kaffee. Sie können sich jederzeit welchen holen.« Dann lächelt sie, gleichzeitig entschuldigend und geniert. Ich seufze, als sie draußen ist. Armes Mädchen. What a job! Und dann für den Lohn.
Lange und gründlich wasche ich mir die Hände am Waschbecken im Zimmer, zuerst mit Seife und dann mit Desinfektionsmittel. Ich betrachte mein Spiegelbild mit seinem nebulösen Profil als Hintergrundprojektion. Er ist nicht alt, ich bin nicht jung. Nicht mehr. Jetzt kann ich es deutlich sehen – das gleiche ist mit Birgitte passiert, nachdem sie Maxi bekam. Wir verblassen. Sie saugen uns die Jugend aus, die Kinder. Die Freiheit, die Sorglosigkeit und die ungeahnten Möglichkeiten. Wir bekommen eine andere Schwere, Schatten unter den Augen, hervorstehende Wangenknochen. Die Frische verschwindet. Vielleicht war es das, was er nicht ertragen konnte. Bereits das Alter im Spiegel zu erahnen. Sich selbst als alt zu sehen, wenn er uns sah. Uns, die Forderungen nach Pflege, Kindheit und Jugend stellten. Er, der die Pflicht hatte, zur Seite zu treten und uns Platz zu machen. Zweiunddreißig bin ich. Zweiunddreißig war er, als er wütend mit den Türen schlug und nach einem weiteren Streit mit dieser Frau, die sich nie ganz für ihn entschieden hatte, davonging. Ein dramatischer Abgang, der in der Wiederholung so trivial wirkte und retrospektiv gesehen um so effektvoller war. Denn er kam nie zurück. Ich weiß nicht, wohin er von dort aus gegangen ist. Mutter hat die Geschichte immer dahingehend weitergesponnen, daß er sich sternhagelvoll getrunken hat, in der Stadt herumgeirrt ist, bis er schließlich auf irgendeinem Frachter im Hafen von Tuborg gelandet ist, wo er als blinder Passagier im Frachtraum unterkam, um schließlich nach einer ganzen Zeit mit Kater und schlechtem Gewissen auf offener See aufzuwachen, zu sehr auf die eigene Ehre bedacht oder zu wahnsinnig, um seine Dummheit einzugestehen und darum zu bitten, bei der nächsten Gelegenheit an Land gesetzt zu werden. Deshalb musterte er erst in Rotterdam ab, um sofort wieder auf einem größeren Frachter anzuheuern, der bis nach Suez fahren sollte. Angeblich hat sie die Geschichte vom dänischen Ingenieur des Frachters, der sie nach beendeter Fahrt aufsuchte, weil er als ordentlicher Mann der Meinung war, daß sie über das Schicksal ihres Mannes Bescheid wissen sollte. Auf Læsø konnte ich Vater schließlich auch dazu bringen, die Geschichte in groben Zügen zu bestätigen, mit dem Zusatz, »aber es gab ja sowieso keinen Weg mehr für mich zurück«. Den hätte es wohl schon gegeben, wenn er ihn hätte finden wollen, aber »danach verging halt ein Jahr nach dem anderen«. So gesehen in ihrer grundlegenden Ungeheuerlichkeit eine plausible Geschichte, mit der ich mich genau wie meine Mutter insgesamt zufriedengeben konnte. Aber inzwischen weiß ich ja, daß sie sozusagen nicht wasserdicht ist. Ich brauche mich nur umzudrehen und auf den Nachttisch zu sehen, um mich daran zu erinnern, daß das alles eine einzige große Lüge war. Der Streit mit Mutter war nur ein Vorwand. Eine einstudierte Szene. Vaters Flucht war geplant. Denn wie er mir selbst erzählt hat – Verlaine, der Block und der Füller lagen in seiner Tasche. Und im Verlaine-Buch lag der Paß.
»Son of a bitch!« zische ich in plötzlich aufflammender Wut, nehme meine Handtasche und eile schnell auf den Flur. Soll er doch sterben oder nicht. Ich muß einen Platz finden, wo ich rauchen kann. Mein Zigarettenkonsum hat im Vergleich zu früher heute ein zivilisiertes Niveau erreicht, und ich gestatte mir nur noch in absoluten Notsituationen zu rauchen, wofür diese jedoch sehr großzügig definiert werden. Eine solche liegt zweifellos vor. Meine töchterlichen Gefühle für den Sterbenden sind im Augenblick in ein kühles Nichts verpufft, in ein Vakuum ohne Resonanz, eine ungerichtete Sehnsucht, die flach über dem Boden herumsaust wie ein schnell abbrennender Knaller.
Ich habe keine Ahnung, wie weit ich laufe,