Kopf gegen seinen gelehnt. Kiki ist ganz still. Vielleicht habe ich mein Mandat überschritten. Schließlich hat sie ihm nicht verziehen. Aber dann steht sie auch auf, stellt sich an sein linkes Ohr und fängt an zu singen, fast wie ein rezitierendes Flüstern.
»Die Sonne ist so rot, Vater, und der Wald wird so schwarz verhangen. Jetzt ist die Sonne tot, Vater, und der Tag ist vergangen ...«
Das ganze alte Kinderlied, alle Strophen, singt sie, während ich die Tränen fließen lasse über die allzu späte Erlösung meiner kleinen Schwester, die allzu frühe Abreise meines Vaters und den endgültigen Abschied, in dem wir uns befinden. Es gibt keinen Aufschub mehr, nichts mehr, was verändert werden könnte. Keine andere Hoffnung als die, einander jetzt in der allerletzten Stunde noch erreichen zu können.
Kikis Gesang klingt aus, und ich muß ein Schluchzen unterdrücken, während sie ihn mit einem vorsichtigen, unsicheren Lächeln am Ohrläppchen zupft.
»Okay, das war’s dann. Aber wehe, du schickst uns keine Postkarte, du Schlitzohr!«
Ich muß kichern, und vielleicht ist es wirklich ein Lächeln, das in seinen Mundwinkeln zu sehen ist, bevor er wieder untertaucht. Diesmal bleibt er lange fort. Es gelingt uns, bis zehn zu zählen, bevor er prustend wieder hochkommt. Und noch einmal. Und ein weiteres Mal. Aber ich habe gesehen, daß der Puls jedesmal zwischen den einzelnen Tauchzeiten schwächer wird. Und beim vierten Mal bleibt er unten.
»Eins-zwei-drei-vier-fünf-sechs-sieben-acht-neun-zehn-elfzwölf – NUN KOMM SCHON!« schreit Kiki plötzlich verzweifelt, während ich eine Fingerspitze auf den Puls lege und spüre, wie das Leben sachte ausklingt. Zum Schluß ist kein Puls mehr zu fühlen.
»Es ist vorbei«, sage ich halb erstickt in einem schalldichten Vakuum von Unwirklichkeit und drücke ihm vorsichtig die Augenlider ganz zu, während Kiki verzweifelt meinen Blick mit einem sich weigernden Kopfschütteln sucht. Dann begreift sie und wirft sich schluchzend über seinen Brustkasten, als könnte sie sein Herz damit zwingen, wieder zu schlagen.
»Vater, verflucht noch mal!« weint sie, das Gesicht in seinem Hemd, und ich lasse sie weinen, bis ich doch zur anderen Seite des Betts gehe und sie unter den Achseln hochziehe.
»Du Arschloch, Scheißkerl, dummes Schwein!« schluchzt sie und hört gar nicht damit auf, während ich sie tröste, streichle und fest an mich drücke, bis sie endlich zur Ruhe kommt und wir uns eng nebeneinander setzen und ihn ansehen.
»Ich dachte, er würde zum Schluß noch mal aufwachen«, schnieft sie. »Das machen sie im Film immer.«
Aber das hier ist nicht Paramount Pictures, sondern ein dänisches Provinzkrankenhaus, wo die Abläufe routiniert und effektiv vierundzwanzig Stunden am Tag abschnurren. Nachdem wir also geklingelt haben, gehört er ihnen. Und wir überlassen ihn dem Personal in einer Art konfusem Schwindelgefühl, während wir mit neuem Kaffee im Aufenthaltsraum plaziert werden, solange »er fertiggemacht wird« und ein Arzt kommt und die Sache abschließt. Mit sehr viel Aufmerksamkeit und Rücksicht, wenn man es genau betrachtet, aber das ändert ja nichts an der konkreten Tatsache, daß Verstorbene für sie bereits Vergangenheit und Routine sind. Ein potentielles Forschungsobjekt, was uns klar wird, als der Arzt nach einigen ausweichenden Floskeln zu der Frage kommt, ob wir eine Obduktion erlauben.
»No way!« kommt es kategorisch von Kiki. »Er soll nicht aufgeschnibbelt werden!«
Der Gedanke an das Geräusch einer Knochensäge, die durch Mark und Bein geht, läßt auch in mir alle Eingeweide in Bewegung kommen. Aber dennoch lege ich eine beruhigende Hand auf ihren Arm und frage, ob es denn besondere Gründe für eine Obduktion in diesem Fall geben würde.
»Also«, nimmt der Arzt sich räuspernd Anlauf. »Das Besondere an dem Fall ist eigentlich, daß die Krankheit Ihres Vaters vermutlich lebensstilbedingt ist.«
»Lebensstilbedingt!« keift Kiki. »Er hat gequalmt und gesoffen! Das meinen Sie doch damit, oder? Ist das was, worüber Sie Ihre Doktorarbeit schreiben können?«
Der Arzt rutscht auf seinem Stuhl hin und her, während ich sie beschwichtige. Ihre Stimme ist kurz vorm Überschlagen, jeden Augenblick kann sie wieder in Tränen ausbrechen, deshalb klammere ich mich lieber an die Sachlichkeit und sage dem Arzt, daß wir darüber gern noch einmal allein nachdenken möchten.
»Aber natürlich«, sagt er und überläßt uns resigniert uns selbst. Er weiß sicher genauso gut wie ich, daß die Entscheidung bereits getroffen ist. Ich persönlich bin dafür, daß die Wissenschaft Zugang zu dem entseelten Körper bekommt, aber ich bringe es nicht übers Herz, Kiki zu überreden. Wenn dieser Abend an seinem Sterbelager das einzige intensive Bild in ihrer Erinnerung ist, das sie von ihrem Vater behalten wird, dann soll es nicht von der Vision eines aufragenden großen Zehs auf einer kalten Metallpritsche zerstört werden.
Und als wir wieder ins Zimmer gerufen werden, wo er gewaschen, rasiert und gekämmt in einem sauberen Krankenhaushemd mit einer Halsbinde unter einem weißen Laken liegt, bin auch ich darüber erleichtert, daß wir ihm seine Ruhe lassen. So, als Schlafender definiert, können wir ihn gut aus unseren Gedanken entlassen.
»Fühl mal! Er ist noch warm!« flüstert Kiki und legt ihre Hand um seine. Das stimmt, der letzte Rest an Körperwärme liegt immer noch wie ein Gruß unter der Haut.
»Mein Gott, wie ähnlich du ihm siehst«, sagt sie dann mit einem kleinen Seufzer und fährt mit einem Finger seine Augenbrauen entlang. »Jetzt fast noch mehr als vorher. Da gibt es jedenfalls keinen Zweifel.«
»Was meinst du damit?« frage ich und ahne erneut dieses kindische Gefühl von Ungerechtigkeit. Sie schüttelt den Kopf. Wendet sich zornig von mir ab, während sie ihre innerste, geheimste Angst ins Zimmer schleudert.
»Na, ich bin nicht seine Tochter! Du ja, aber ich nicht!«
Ich starre sie sprachlos an.
»Natürlich bist du seine Tochter! Wessen Tochter solltest du denn sonst sein?«
Sie zuckt mit den Schultern.
»Du kennst doch Mutter. Sie hat sich immer rumgetrieben. Das kann sonstwer gewesen sein. Von Jørgen Reenberg bis zu irgendeinem Bühnenarbeiter!«
»Jørgen Reenberg? Also, Kiki, nun mal ehrlich ...«
»Ich sehe jedenfalls Jørgen Reenberg ähnlicher als ihm da!« beharrt sie mit einem Nicken zu dem Verstorbenen hin. »Guck ihn dir doch an! Ich ähnele ihm ganz und gar nicht!«
»Doch, das tust du!« widerspreche ich ihr und unterdrücke den spontanen Drang, laut aufzulachen. Das ist doch einfach zu grotesk, diese Situation. Aber für Kiki ist es tödlicher Ernst.
»Und wo?« fragt sie verbissen insistierend.
Ich stöhne auf und mache mich daran, ihn vom Scheitel bis zur Sohle gründlich zu begutachten. Und wieder zurück. Sie ist ihm nicht gerade aus dem Gesicht geschnitten, was nur verständlich ist, da sie unserer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Und das will ich gerade anführen, als ich glücklicherweise eine Entdeckung mache.
»Sieh mal!« sage ich triumphierend. »Ihr habt die gleichen Hände! Die gleichen langen Finger, die gleichen ovalen Nägel! Deine sind eine genaue Kopie von seinen!«
Ich umfasse ihre Hand und lege sie zum Vergleich neben seine wachsbleichen Hände.
»Kiki«, erkläre ich entschlossen, als sie ihre Hand ausgestreckt hat und zögernd die Ähnlichkeit zugeben muß. »Das hier ist ebenso gut wie eine Blutprobe oder ein DNA-Test! Sind wir uns also einig darin, daß dieser Mann dein Vater ist? Ganz und gar?«
»Okay«, murmelt sie schleppend, während die Tränen wieder zu laufen beginnen »Aber ein Arschloch ist er trotzdem!«
Darauf sage ich nichts. Und eine Weile stehen wir nur still da und nehmen beide auf unsere Art Abschied, bevor wir uns aus der andächtigen Stimmung losreißen und das tun, was von verantwortungsbewußten Angehörigen erwartet wird: Schränke und Schubladen leeren und die Besitztümer einsammeln, die er mitgebracht hat, als er hier eingewiesen wurde. Mit Ausnahme des Bargelds, der Wertgegenstände