Art liegen.
»Ja«, sage ich verwirrt und suche nach Papier und Stift. Notiere, lege auf, drehe mich zu Paul um. Meine Stimme klingt wie ein Baß und ist mit Kalk belegt, die Worte sind mir fremd wie Diebesgut.
»Mein Vater liegt im Sterben. Ich muß nach Aalborg.«
Das Vernünftigste wäre gewesen, wenn ich bis zur ersten Morgenmaschine gewartet hätte. Aber ich trotze Pauls Kopfschütteln und starte den Wagen, nachdem ich zunächst Kiki angerufen habe und dann meine Mutter. Beide reagieren mit auffallendem Desinteresse. Kiki bedankt sich schlaftrunken für die Information, kann sich aber unter keinen Umständen auch nur im Traum vorstellen, sich am Sterbebett ihres Vaters einzufinden. Mutter ist in erster Linie mit der Katastrophe beschäftigt, gerade in dem Augenblick geweckt worden zu sein, als sie eingeschlafen war – »ich schlafe in letzter Zeit doch so schlecht« –, und antwortet nur mit einem kurzen Auflachen, als ich sie frage, ob sie mitfahren will. »Liebe, süße Therese, dein Vater ist doch selbst gegangen, ohne sich zu verabschieden! Aber grüße ihn gerne von mir!« Danach bin ich sieben Stunden Einsamkeit überlassen, nachdem ich von einem reichlich irritierten Paul verabschiedet wurde. Er sieht seine Abreise am nächsten Tag für seine Arbeitswoche in Odense gefährdet, wenn ich nicht rechtzeitig wieder zurück bin. Was ich beim besten Willen nicht sein werde. Ich bin nicht in der Lage, eine Diskussion zu führen, noch weniger einen Streit darüber, ob es wohl angemessen ist, seinen verfluchten Dienstplan als derzeit größtes Problem zu betrachten. Also fahre ich einfach mit heruntergekurbeltem Fenster los, während ich ihn noch daran erinnere, daß der Kindergarten einen Ausflug plant und Zarina ihre Gummistiefel mitnehmen muß. Danach sehe ich ihn im Rückspiegel am Gartenzaun stehen, die Arme in einer beschwörenden, aber resignierten Geste erhoben.
»Verflucht noch mal«, schimpfe ich mit lauter Stimme und schlage mit der Hand aufs Lenkrad. Eigentlich hätte ich ganz gut eine tröstende Umarmung brauchen können, einen Gruß mit auf den Weg, eine kameradschaftliche Hand auf der Schulter. Ich stelle das Nachtprogramm im Radio ein und gebe Gas und fahre Richtung Halsskov.
Sieben Stunden bis zur Erkenntnis, sieben Stunden Autofahrt zum Verdauen und Vorbereiten. Sieben unwirkliche Stunden unter dem Herbstmond mit Blick auf verzaubert beleuchtete Landschaften, Hügelketten und Flußläufe, die durch die Autobahn, die ich im großen und ganzen für mich habe, zerschnitten werden. Kurz vor Sonnenaufgang erinnert mich der erste Morgenverkehr nördlich von Århus schmerzlich daran, daß dies im Leben der meisten Menschen nur ein ganz normaler Tag ist. Ich rauche Zigaretten, trinke Cola und höre zur vollen Stunde Nachrichten, während das Auto sich Kilometer um Kilometer durch Jütland frißt und die Angst einzuschlafen hinter jeder neuen Kurve lauert. Die Monotonie wirkt so einschläfernd und beruhigend, daß ich zwischendurch fast vergesse, warum ich hier sitze, wohin ich fahre. Als befände ich mich in dem leichten Schlaf, kurz bevor der Wecker klingelt und ich aufstehen und Zarina wecken muß. Los, die Morgenzeitung holen und Kaffee kochen, los und in den Kindergarten fahren, los zu einem neuen Arbeitstag.
Kurz vor Skørping schrecke ich jäh auf, als plötzlich ein Reh über die Fahrbahn springt, nicht einmal zwanzig Meter vor mir. Während ich in die Bremsen trete und das Steuer scharf nach links reiße, gelingt es mir noch, die Schönheit des Sprungs zu registrieren. Das Reh verschwindet unbeschädigt im Gebüsch, während ich nach Luft schnappend wieder geradeaus fahre und in Gedanken einen anerkennenden Gruß an den Erfinder des ABS schicke. Gleich danach steuere ich einen Rastplatz an.
Ich zünde meine letzte Zigarette an, steige aus und strecke meine Beine aus, die immer noch leicht zittern. Ich laufe ein wenig herum, sauge den würzigen Duft nach Erde, Wald und Vergänglichkeit ein, sehe, wie der Tau von einer Hagebutte perlt und die Sonne ein Spinnennetz zum Glitzern bringt. Zum ersten Mal seit dem Anruf aus dem Krankenhaus wird mir der Inhalt der Nachricht wirklich klar – ein Leben ist dabei zu erlöschen, an einem anderen Ort, und dennoch mitten in allem.
Ich trete die Kippe mit dem Schuh aus und setze mich wieder ins Auto, um das letzte Stück zu fahren. Die 8-Uhr-Nachrichten teilen mit, daß die NATO bei einem Offensivangriff gegen bosnisch-serbische Stellungen Cruise-Missiles eingesetzt hat. Die Wetteraussichten verheißen schwache Winde und Sonne in den meisten Teilen des Landes. Es wird ein schöner Tag. Ein schöner Tag zum Sterben.
In plötzlicher Panik, zu spät zu kommen, weil ich getrödelt habe, weil ich den Alarm nicht ernst genug genommen habe, rase ich das letzte Stück zum Krankenhaus in Aalborg Süd. Ich verfahre mich, fluche, werde von Straßenbauarbeiten und Umleitungen gebremst und muß aussteigen und einen Schuljungen nach dem Weg fragen, bis ich endlich vor dem Krankenhausklotz ankomme. Ich lasse den Wagen auf einem Parkplatz für Behinderte stehen, werfe einen Blick auf die Übersichtstafel in der Eingangshalle, vergleiche die Angaben mit meinen eigenen Notizen und eile zielstrebig zum Fahrstuhl, den ich mit einer pergamentbleichen Frau teilen muß. Sie ist glatzköpfig und steckt in einem Bademantel aus verwaschenem bläulichen Frottee, der wie eine verbeulte Hülle um den abgemagerten Körper hängt. Sie hat eine neue Morgenzeitung unter dem Arm, Berlingske Tidene, und ich muß den spontanen Drang in mir unterdrücken, sie zu fragen, ob ich sie nicht lieber für sie tragen solle. Aber ich begnüge mich damit, mich unter ihrem leeren, allzu wissenden Blick zu krümmen. Ich wundere mich darüber, welches Interesse sie noch an unserer lebenden Welt haben kann, an Banalitäten und marktschreierischen Überschriften. Aber vielleicht weiß sie gar nicht, will gar nicht wissen, daß sie bereits die Grenze überschritten hat. Sie steigt auch in der Onkologie aus, Abteilung DI. Ich lasse sie vorgehen und folge dem Engel des Todes auf dem Weg den Flur entlang. Als sie in ihr Zimmer gleitet, stehe ich plötzlich allein da, unsicher und fremd wie ein unerwünschter Eindringling, dessen einzige Berechtigung, hier einzudringen, in meiner Rolle als Statistin in einem Drama besteht, von dem ich kaum die Umrisse kenne. Kurz vor der Glasluke der diensthabenden Krankenschwestern drehe ich feige ab und suche Zuflucht in einer Toilette, wo es mir gerade noch gelingt, mich über eine Schüssel zu krümmen, bevor ich die Nacht erbreche. Die Colas, die Zigaretten, den Easy-listening-Pop, die Müdigkeit und die Angst vor der Gegenüberstellung, die mich jetzt erwartet. Gefaßt und ruhig möchte ich sein, wenn ich dem Tod begegne. Ich spritze mir kaltes Wasser ins Gesicht, überlege, ob ich mein übliches rudimentäres Make-up auflegen soll, um die flackernden Schatten der schlaflosen Nacht zu camouflieren, verwerfe diesen Gedanken jedoch als obszön, gerade hier, wo doch alle quasi nackt sind. Also trinke ich etwas Wasser aus dem Hahn, murmle ein beschwörendes »Come on, honey!« und verlasse den Schutzraum mit dem einzigen Wunsch, daß es noch nicht zu spät sein möge.
»Wie gut, daß Sie kommen! Sind Sie allein?« fragt die Krankenschwester, als ich mich bei ihr melde. Die Nachtwache ist nach Hause gegangen, aber sie hier ist genauso lieb und nordjütländisch fürsorglich.
»Ich bringe Sie zu Herrn Skaarup«, sagt sie und versteht meine unausgesprochene Frage.
»Ich fürchte, wir werden ihn nicht mehr lange unter uns haben. Er ist sehr instabil.«
Ich folge still ihrem Kittelknistern, und dann sind wir da – in einem kleinen Einbettzimmer mit einem hohen Krankenhausbett mitten im Raum. Dort, unter einer weißen Waffeldecke, in die der Krankenhausname blau eingewebt ist, liegt eine unbewegliche Gestalt, die ich auf den ersten Blick gar nicht als meinen Vater wiedererkenne. Das Gesicht ist grau, die Züge sind eingefallen, der Mund schief verzogen und die Nase ragt viel zu scharf hervor. Der einst so dichte Bart ist zu grauen Zotteln geworden, und seine breite Wikingerbrust ist nichts mehr als Knochen, die von stramm sitzender Haut überzogen sind. Das einzige, was ich an ihm wiedererkenne, sind die schwarzen Augenbrauen, zwei breite Tuschestriche mitten in der Farblosigkeit.
Er ähnelt einem Picasso-Gemälde, einem verzerrten Guernica-Pferd, das er mir selbst einmal in einem der seltenen Augenblicke vor Hunderten von Jahren gezeigt hat, an einem ruhigen Sonntag, als wir uns Kunstbücher ansahen. Er versprach, wenn ich größer wäre, mir alle diese Bilder im Original zu zeigen, mich in alle Museen der Welt mitzunehmen, nach Madrid, London, Paris, Florenz, New York. Aber daraus ist auch nichts geworden.
Ich weiß, mein Mund steht offen in stummem Entsetzen, ich sehe mich selbst, wie ich mich schluchzend auf ihn werfe, aber ich kann nur vollkommen starr dastehen. Ein Schrei steckt in mir fest. Er liegt so still da. Er muß schon tot sein. Sie haben es nur noch nicht gemerkt.
Die