zieht. Ich habe ihn grenzenlos bewundert. Ohne Skaarup wäre ich selbst nie rausgekommen.«
Ich betrachte eingehend sein Profil. Ein gutaussehender Mann Ende Fünfzig, der gut auf sich aufgepaßt hat. Schlank, graue Schläfen, ein gesunder Teint – wahrscheinlich vom Golfplatz. Gute Karriere, schöne Frau, nette Kinder. Der richtige Cholesterinwert und geschmackvolles Design. Er ist für mich in jeder Beziehung eine massive Provokation, mit all dieser Schönheit, die ich seit meiner rebellischen Jugend verachte. Aber jetzt möchte ich nur soviel Information wie möglich von seinen Augen ablesen, seine Erinnerungen abzapfen, ihm all sein Wissen über diesen fremden Mann herauslocken, der hier liegt und der mein Vater ist. Niels Holmstrup steht in Gedanken versunken da, findet aber schnell wieder den sachlichen Ton.
»Ihr Vater hat seit längerer Zeit an Magenkrebs gelitten, der allzu lange unbehandelt in seinem Körper wüten durfte. So konnte er nicht mehr gestoppt werden, als Ihr Vater endlich zum Arzt ging. In Frederikshavn haben sie ihn aufgeschnitten, konnten aber nichts mehr für ihn tun, und als dann noch dieser Blutsturz dazu kam, ist er hier eingeliefert worden. Das habe ich selbst veranlaßt – nicht, weil ich viel hätte ausrichten können. Aber nachdem er zurückgekommen ist, haben Ihr Vater und ich uns ab und zu mal wieder getroffen ...«
»Haben Sie zusammen Schach gespielt?« werfe ich ein, denn plötzlich erinnere ich mich an den Namen Niels Holmstrup, höre den Namen, wie Vater ihn ausgesprochen hat, wie ein Wort aus seiner fernen Welt, wie Læsø, wie Klippfisch, wie wehender Sand, wie Innere Mission.
»Ja! Das stimmt!« Er strahlt. »Und das ist wohl das einzige, von dem ich behaupten kann, daß ich es ihn gelehrt habe! Schachspielen! Und er wurde natürlich in Windeseile ein souveräner Schachspieler. Die einzige Möglichkeit, gegen ihn zu gewinnen, war sein Temperament. Er regte sich immer viel zu schnell auf und war ein schlechter Verlierer!« Holmstrup schüttelt den Kopf und umfaßt wieder den Fuß unter der Decke.
»Du hattest immer gegen dein Temperament zu kämpfen, Skaarup, damals jedenfalls. Du warst ein reichlich wilder Bursche. Sie können sich sicher nicht mehr daran erinnern«, sagt er dann zu mir gewandt, »aber da war dieses Feuer, das immer in ihm brodelte und flackerte. Immer am Rande des Vulkans.« Ich nicke. Doch, daran kann ich mich noch gut erinnern. Schwere Schritte die Treppe hinunter, der plötzlich aufflammende Wutausbruch, die zurückgeschobenen Stühle, die lautstarken Streitereien mit Mutter und ihre ebenso lautstarken Versöhnungen anschließend im Schlafzimmer, während Kiki und ich im Wohnzimmer saßen, die Finger in den Ohren.
»Aber«, sagt Holmstrup und drückt den Fuß leicht, »so ist es in letzter Zeit ja nicht mehr gewesen. The Lion has lost his force.« Er seufzt, traurig, wie ich sehe. Eher als Freund denn als Arzt. Es rührt mich, daß er einen Freund gehabt hat. Daß es wenigstens noch einen Menschen gibt, dem er nicht gleichgültig ist. Daß es noch einen gibt, der ihn ohne Verdruß gekannt hat. »Gibt es eine Chance, daß er noch einmal die Augen aufmacht?« frage ich, nachdem ich mir fest auf die Lippen gebissen habe, um die Tränen zurückzuhalten.
Holmstrup tut das gleiche wie die Krankenschwester, er prüft den Puls. Als wolle er die Antwort etwas hinauszögern, wie ich annehme.
»Man soll nie nie sagen. Aber ich denke, Sie sollten sich darauf gefaßt machen, daß Ihr Vater bereits in die Phase eingetreten ist, in der er immer weiter von uns weggleitet.«
Ich sehe das Schiff vom Kai ablegen und mich, die ich am Ufer stehe, außerstande, es zu erreichen, außerstande, zu verhindern, daß der Abstand zwischen uns immer größer wird, bis es zum Schluß nur noch ein schwarzer Punkt auf dem offenen Meer ist. Genau, ein Meer. Kein Fluß.
»Wie lange wird es dauern?« frage ich, versinke in mir und höre selbst, wie dünn meine Stimme wird.
»Das ist schwer zu sagen. Einige Stunden, denke ich. Sind noch andere Angehörige auf dem Weg? Ihre Schwester? Oder Ihr Mann?«
Ich schüttle den Kopf. Außerstande, etwas zu erklären oder zu entschuldigen.
»Dann sind Sie ganz allein?« fragt er und versteht vielleicht mehr, als ich geglaubt hatte. Und da ist auch noch so ein Unterton von Besorgnis in seiner Stimme, als wäre das hier nichts, was man allein durchstehen sollte.
»Ja, ich bin ganz allein«, antworte ich und nehme mich zusammen. Großes Mädchen. Merkwürdigerweise ist es genau wie damals, als ich am Kreißsaal ankam, mir die gleiche Frage gestellt wurde und ich die gleiche toughe Antwort geben mußte.
»Also«, sagt er, als sein Piepser sich in seiner Kitteltasche meldet, »ich muß jetzt zu einer Konferenz, aber ich komme anschließend wieder ...«
Der Vormittag vergeht ohne Veränderungen. Holmstrup schaut ein paarmal herein, die Krankenschwester kommt mit Saft und meint, ich könnte gern zum Kiosk hinuntergehen. Sie würde dann solange bei ihm sitzen bleiben. Das soll wohl heißen, daß er nicht im nächsten Moment sterben wird. Ich vertraue ihrer Kompetenz, beeile mich aber trotzdem und habe das Gefühl, der Fahrstuhl sei viel zu langsam, als ich mit den Tageszeitungen, Zigaretten und ein paar blankpolierten Äpfeln wieder hochfahre. Als ich an einem Münztelefon vorbeikomme, überlege ich, ob ich zu Hause anrufen soll, lasse es dann aber doch. Das Risiko, einen beleidigten Paul am Telefon zu haben, ist zu groß. Dafür fällt mir ein, daß ich ja an meinem Arbeitsplatz anrufen muß. Ich habe zwar keinen Dienst, hatte aber versprochen, an einer Konferenz für die Konzeptentwicklung eines neuen Auslandsmagazins teilzunehmen, dessen Studioleiterin ich vielleicht werden soll. Das ist zwar noch nicht offiziell, aber mir ist von Big Mama, unserem weiblichen Programmchef, ins Ohr geflüstert worden, daß das ihr heimlicher Plan ist. »Mehr Frauen in die große Politik!« wie sie sagt. Nach außen hin setzt sie auf mehrere Pferde, damit die old boys in der Redaktion nicht anfangen zu mauern. Mehrere von ihnen haben auf ihre alten Tage angefangen, an einer Art Walter-Cronkite-Syndrom zu leiden: Jetzt, wo sie zu alt sind, um in den Krieg zu ziehen, möchten sie gern zurückgelehnt im Studio sitzen und die Weltsituation in Gesellschaft gelehrter Gäste mit einem Glas Selters vor sich analysieren. Das findet Big Mama, die sie kennt, seit sie noch jung waren und bei der Roskilde avis ihre Ausbildung gemacht haben, ziemlich pathetisch. Deshalb hat sie mir die Rolle des chancenreichen Außenseiters zugeteilt. Und außerdem meint sie, ich müsse mich nach der verhältnismäßig unspektakulären Baby- und Kleinkindzeit mal wieder stärker profilieren.
Und darin muß ich ihr recht geben – ich habe meine Arbeit zwar brav und ordentlich gemacht, aber irgendwie fehlte meiner Karriere in letzter Zeit der rechte Schwung. Seit Zarinas Geburt mußte ich notgedrungen erkennen, daß es einen Unterschied zwischen Frauen und Männern gibt, zwischen Müttern und Vätern, zwischen Paul und mir. Auch nach dem Erziehungsurlaub, aus dem ich mit voller Kraft wieder zurückkehren wollte, gelang es mir einfach nicht, meinen Platz auf der Führungsebene auszufüllen, ganz einfach, weil meine Kondition nicht gut genug war. Ich war vom Mangel an Schlaf, richtigem Essen und allgemeiner Fürsorge physisch derart geschwächt, daß ich nur eine passable, routinemäßige Leistung erbringen konnte. Beim Sender versuchten sie sogar, Nachsicht zu üben, und gaben mir trotzdem ein paar der eigentlich ziemlich begehrten Reportagereisen, aber das eine Mal bekam ich am Abend vor dem Abflug ins Baltikum eine Grippe, das andere Mal waren wir gerade eineinhalb Tage in Prag, als Zarina in einem unbeaufsichtigten Augenblick zu Hause vom Küchentisch fiel, sich das Schlüsselbein brach und mit Verdacht auf Gehirnerschütterung ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Am Telefon versuchte Paul das Ganze herunterzuspielen und forderte mich auf, meine Arbeit in Ruhe zu beenden, aber sobald wir das geplante Interview mit Präsident Havel im Kasten hatten, nahm ich den ersten Flug nach Hause. Voller Angst, Unruhe und Empörung über Pauls Nachlässigkeit. Wenn er nur besser aufgepaßt hätte, statt dazusitzen, in der Nase zu bohren und CNN zu gucken, dann wäre das nie geschehen. Doch als ich ins Krankenhaus gerannt kam, um mein geliebtes Kind zu retten, saß dieses natürlich fertig angezogen auf dem Boden des Spielzimmers in der Kinderabteilung, lachte, trank Cola mit einem Strohhalm und war ganz und gar nicht damit einverstanden, daß ich sie mit nach Hause nehmen wollte. Mitten in meiner Erleichterung wurde ich so stinkwütend auf Paul, der neben ihr saß und mit dem Brio-Zug dampfte, daß ich zuerst einen hysterischen Anfall bekam und dann neben den beiden auf dem Boden zusammenbrach. Dabei gelang es mir nicht, ohnmächtige Weinkrämpfe zurückzuhalten, von denen ich bisher gedacht