behalten für das, was du warst. Jung, klug, schön ...« –, da brach seine Stimme, woraufhin er mit zitternden Armen und einem Ausdruck kindlicher Hilflosigkeit vom Sarg weggetreten und zu seinem Platz buchstäblich gewankt war. Beobachter vermerkten, dass die Ehefrau ihre Hand in ihrem Schoß liegen ließ, um kurz darauf die Beerdigung zu verlassen. Dass die Ehe wenig später aufgelöst wurde, überraschte deshalb niemanden. Dass aber die Medien die Trennung äußerst diskret behandelten und die ganze Affäre zusammen mit der Hauptperson, die fast schon heilig gesprochen war, beerdigten, wunderte vielleicht doch manche. Die Erklärung dafür war ganz einfach: Es ließ nicht einmal die abgebrühtesten Zeitungsfritzen kalt. Weder der Todesfall noch die Reaktionen oder die Kritik. Ähnlich wie fünfzehn Jahre später beim Tod Prinzessin Dianas war die Rede von einer schmerzlichen, wenn auch nur kurzlebigen Selbstprüfung, so weit das Auge reichte.
Seitdem war »Eva Bøgelund« tabu. Nicht zuletzt innerhalb der Partei. Man erinnerte sich zwar an sie, gedachte ihrer aber nicht. In diesem Sinne hatte er, Per Vittrup, sein Versprechen also nicht gehalten. Abgesehen davon, dass er sich jedes Jahr an ihrem Geburtstag versicherte, dass auch ein Kranz auf ihr Grab gelegt worden war. Die alten Rotkäppchen, die mittlerweile in alle Richtungen zerstreut waren und als Fraktion längst nicht mehr existierten, fanden sich ebenfalls jedes Jahr in aller Stille an ihrem Grab ein. Aber sie hatten den Todestag zum Gedenken bestimmt. Vielmehr Meyer hatte das festgelegt. Sie sprachen nie wirklich über den Grund dafür. Und doch war deutlich zu merken, dass – während einige der alten Kampfgefährten die jährliche Gedenkfeier inzwischen hintanstellten und eigentlich der Meinung waren, dass es sich überholt hatte – dieser Tag für Meyer sakrosankt war. Ganz gleich, welche Position sie innehatte, ganz gleich, wie voll ihr Terminkalender war: Der 22. September, 15 Uhr, war immer reserviert. »Dieser Tag ist ihr wichtiger als Heiligabend«, wie ein Rotkäppchen einmal einem Journalisten anvertraute: Es war mehrmals passiert, dass sie im Dienstwagen in Roskilde angekommen war – entweder auf dem Weg zum Flughafen oder direkt von dort –, und manchmal hatte sie das anschließende Beisammensein mit Rotwein und Lauchkuchen, Salat und Käse, das »Eva-Menü«, auslassen müssen. Aber es war noch nie vorgekommen, dass sie die stille halbe Stunde, die die alten Freundinnen am Grab verbrachten, versäumt hatte. Und sie hatte es immer geschafft, die gleiche Art dunkelrote Rose aufzutreiben.
Obwohl Eva Bøgelund Per Vittrup und Elizabeth Meyer auf diese Weise zu einer schmerzlichen Schicksalsgemeinschaft zusammengefügt hatte, war das niemals etwas gewesen, was sie gepflegt hatten. Darum war es auch so unerhört, dass Meyer mit ihrem Ausbruch Eva in einer Konfliktsituation gegen Vittrup eingesetzt hatte, und so ließ sie ihre Waffe schnell wieder fallen. Aus der begründeten Angst heraus, dass sie damit selbst zum Opfer werden konnte.
Stattdessen fuhr sie in ihrem kühlen Geschäftston fort und verkündete, dass sie »eine alternative Liste« erstellt hatte, die sie daraufhin aus ihrer schicken Handtasche hervorzog – Gucci, wie Gitte ihm bei einer früheren Gelegenheit erklärt hatte. Was ja seiner Meinung nach die Erklärung dafür war, warum er Staatsminister geworden war und nicht Elizabeth Meyer, Tochter eines wohlhabenden jüdischen Kürschners in zweiter Generation. Angefangen bei ihrem honigfarbenen, hochgesteckten Haar, über den üppigen Pelzmantel bis hin zu den schlanken Zigarillos, war es schlicht ihr Auftreten – ja, der ganze Stil, der einer italienischen Operndiva würdig gewesen wäre – und nicht ihr Geschlecht, das sie um den Posten betrogen hatte, für den ihre politische Begabung, ihr Engagement und ihre Ambitioniertheit anderenfalls Berechtigung genug gewesen wären. Sie war ganz einfach undänisch und nicht gerade volksnah und, okay, sie war auch – trotz ihrer hohen Absätze und lackierten Fingernägel – auf eine provokante Art unweiblich. Im Laufe der Zeit hatte diese kinderlose und seit vielen Jahren unverheiratete Frau schließlich auch massenweise gute Ratschläge bekommen, wie sie ihr Image ändern könnte – die Haare abschneiden, sich in Jeans und Sweatshirt zeigen, sich auf dem Fahrrad mit Proviant im Korb fotografieren lassen. Ein Kind bekommen! Einen Mann! Eine Familie! Was auch immer, solange es sie nur verträglicher für die breite Öffentlichkeit machte. Sie weigerte sich standhaft, hatte immer entschieden daran festgehalten, dass man sie entweder nehmen musste, wie sie war, oder es eben bleiben ließ. Eine Haltung, für die sie teuer hatte bezahlen müssen, die aber mit den Jahren ein Teil ihres Kapitals geworden war. Denn sie bewies Integrität.
Außerdem waren die Zeiten nicht mehr so politisch korrekt – ganz im Gegenteil. Image war alles. Nicht zuletzt bei den jüngeren Wählergruppen, die mehr materialistisches Streben besaßen als alle anderen vor ihnen, und die sich, für jeden erkennbar, als Marken-Junkies darstellten. Es war keine Schande mehr, sich als fashion victim zu outen, und darum erschien Elizabeth Meyer auch öfters auf den In-Listen der hippsten Magazine und lief bereitwillig Reklame für neue Designer, die ihren »Glamlook« bewunderten. In einem Radioprogramm hatte er einmal jemanden sagen hören, dass sie »hammermäßig führte« und man sie zu »Kult« erklärte, bis hin zu »göttlich«. Per Vittrup hingegen hatte nach außen hin nichts weiter als ein Schulterzucken übrig für Meyers Flirt mit dem, was Gitte nach einem trendigen Lifestyle-Magazin als »Wallpaper-Segment« bezeichnete. Aber eigentlich beunruhigte es ihn, denn er hatte das unbehagliche Gefühl, dass sie auf etwas aus war. Etwas, das er nicht durchschauen konnte.
Genau dieses Gefühl spürte er jetzt hochkriechen, als er völlig überrumpelt die bevorzugte Ministerliste in die Hand gedrückt bekam und zum ersten Mal den Namen Charlotte Damgaard in Zusammenhang mit dem Posten der Umwelt- und Energieministerin las. Erweitert um Meyers vertiefende Stichworte: »Jung, engagiert, kompetent, gut ausgebildet, schlagkräftig, insbesondere mediengeeignet, weiblich, attraktiv, Kinder, verheiratet. Stammt aus nordjütländischem Bauernmilieu. Bei allein erziehender Mutter aufgewachsen. M. A. in Politologie, Studium in Aarhus und Kopenhagen, Vorstand der Naturfreunde, früher Kampagnenleiterin bei Greenpeace, davor Angestellte der Stadt Kopenhagen. Aktiv im Freien Forum, Mitglied der Sozialdemokratischen Partei seit 1990. Als studentische Hilfskraft bei Elizabeth Meyer angestellt von 96 bis 97.«
»Du weißt, ich habe sie über mehrere Jahre im Auge behalten. Sie hat alles. Und jetzt ist sie so weit«, sagte Elizabeth Meyer, bevor er es schaffte, sich zu äußern.
»Charlotte Damgaard«, seufzte er, als er vom Papier aufblickte. »Dein Schützling.«
»Eine ganz außergewöhnliche politische Begabung. Enorme fachliche Kenntnisse. Sie hat die Naturfreunde von einem harmlosen Verein für Sonntagswanderer zu einem politischen Machtfaktor gemacht. Die haben über 100.000 Mitglieder. Das ist bedeutend mehr, als wir haben«, setzte sie hinzu.
»Soweit ich über sie orientiert bin, ist sie eine rabiate Idealistin ohne Realitätssinn. Ist sie nicht die, die ein Totalverbot von Spritzmitteln fordert?«
»Sie ist gerade Realistin. Sie erfüllt die Aufgabe, die sie übernimmt. Sie war es, die den Großteil der Vorlagen für unser geändertes Umweltprogramm geschrieben hat. Im Ministerbüro waren auch alle von ihr begeistert. Viele ihrer Analysen sind immer noch aktuell. Ihre Rede auf dem letzten Kongress war meiner Meinung nach blendend.«
»Wenn sie so toll ist, warum hast du sie dann nicht behalten?«
»Sie hat abgelehnt. Damals meinte sie, dass die reellen Möglichkeiten, Einfluss zu nehmen, in immer größerem Maße außerhalb des Parlaments liegen. Diese These musste sie also überprüfen.«
»Und was meint sie jetzt?«
»Das Gleiche. Ich bin da übrigens einer Meinung mit ihr. Zum Ausgleich stimmt sie dafür mit mir überein, dass es schwer ist, das formelle politische System zu umgehen, wenn man wirklich etwas erreichen will. Die Basis kann den Gesetzgeber beeinflussen, aber die Gesetze schreiben – das tun immer noch wir.«
»Das hat sie eingesehen?«, fragte Per Vittrup und runzelte skeptisch die Stirn.
»Ja. Aber sie kokettiert nicht mit der Macht. Deswegen ist sie ja die Richtige. Wir brauchen ein markantes Profil auf diesem Gebiet. Sonst schnappen sich die Radikalen das Sahnestück. Dieses auch noch.«
Elizabeth Meyer nahm die Brille ab. Sah ihren Chef an, ohne zu blinzeln.
»Was ist mit dem Umweltminister, den wir haben?«, fragte er darauf rhetorisch. »Was hat