gebraucht wurde. Es ging so glatt, dass sie fast schon misstrauisch wurde. War das in Wirklichkeit ein Komplott? Wünschten die sich, sie loszuwerden? Oder ging es nur darum, dass sie das einzig Richtige tat, indem sie »das gute Leben« wählte und ihren Mann zum Zuge kommen ließ?
Ihre Schwiegereltern, Restaurant-Magnaten aus Aalborg, waren zum ersten Mal in den zehn Jahren, seit sie Thomas kannte, andeutungsweise zufrieden mit ihr. Weil sie endlich einlenkte. Zuließ, dass ihr Sohn eine Führungsposition einnahm, wie sie es nannten, in dem Versuch, es klingen zu lassen, als würde er für den A.-P.-Møller-Konzern in die Welt ziehen.
Sie hatten nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass sie sie als Unglück für ihren Sohn betrachteten, von dem sie sich so viel erhofft hatten. In ihren Augen stand es außer Frage, dass es ihre Schuld war, dass aus Thomas nichts geworden war. Sollte heißen: nichts, was ihm die Tür zu den Rotariern geöffnet hätte. Ein Geschäft oder wenigstens Jura. Dass er sich für Ethnographie entschieden hatte, bevor sie sich kennen lernten, hatten sie verdrängt. Dass er von dem Tag an in Opposition zu der provinziellen Bürgerlichkeit seiner Eltern gestanden hatte, an dem er als sanfter, aber konsequenter Junge seine Lacoste-Hemden in die Kleidersammlung des Roten Kreuzes geschmissen hatte und seine Zeit lieber damit verbrachte, auf der Suche nach Steinkeilen durch Vendsyssels Ackerfurchen zu stiefeln, als mit seinem Vater die Restaurants auf Aalborgs Vergnügungsmeile abzuschreiten – auch das hatten sie aus der Familienchronik entfernt. Thomas hatte immer zum Ausdruck gebracht, dass ihm die Ansichten seiner Eltern völlig gleichgültig waren. Aber auf eine rührende Art stand er ihnen immer noch treu zur Seite. Und nicht nur, weil er ihr einziges Kind war und eine gewisse familiäre Verpflichtung fühlte. Er hielt viel von ihnen, ja, er liebte sie ganz einfach. Auch wenn das Verhältnis zwischen Charlotte und seinen Eltern angespannt war, schlug er sich nie auf eine Seite. Thomas taugte nicht zu Krieg und Konflikt, er war der geborene Schlichter mit seinem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Darum hätte er es ohnehin nie weit gebracht in dem Geschäftsleben, das die Arena seines Vaters war. Ihm fehlte der Killerinstinkt. Ganz einfach.
Für Charlotte war Thomas immer ein Mysterium gewesen. Er war so ehrlich wie Wasser und Brot, und das war von Anfang an eine unglaubliche Erleichterung gewesen. Dass sie nicht alles erraten, sich nicht im Dunklen vorwärtstasten musste. Wie er es selbst ausgedrückt hatte, als sie an dem frühen, pastellfarbenen Morgen nach dem nächtlichen Bad das erste Mal gemeinsam unter einer Decke lagen: »Du bekommst, was du siehst.«
Seine Reaktion darauf, dass sie einen Schritt zurücktrat und ihm das gelbe Trikot überließ, verwirrte sie so sehr, dass sie sich in den letzten Monaten öfters dabei ertappt hatte, wie sie dasaß und ihn betrachtete, als wäre er eben erst in ihr Leben getreten. Seine Freude hatte sie völlig überrumpelt. Und sein Stolz. Der ganz besonders. Als er in Aalborg angerufen und erst seine Mutter und dann seinen Vater gesprochen hatte, war er so stolz darauf, von seiner Beförderung zu erzählen, dass seine Stimme kurz davor war zu kippen. Er ließ sich von ihnen mit Gratulationen überschütten und kroch förmlich in den Hörer vor Glück über ihre Begeisterung.
»Oh Mann, waren die aus dem Häuschen!«, grinste er exaltiert und mit gerötetem Gesicht, als er den Hörer auflegte und sich zum ersten Mal zu ihr umdrehte. Verlegen, als wüsste er genau, dass er sie irgendwie verraten hatte, indem er nie zugegeben hatte, wie viel es ihm dennoch bedeutete, ihre Erwartungen zu erfüllen.
»Das warst du wohl auch«, gab sie bissig zurück. Und schloss sich damit endgültig aus diesem offenkundig absolut intakten Dreieck aus.
Auf diese Art hatte er in den letzten Monaten neue Seiten von sich gezeigt. Während sie ihren Job abwickelte und bemerkte, wie ihr jeden Tag etwas mehr die Puste ausging, bekam er Auftrieb und wurde immer dynamischer und energischer, vereinnahmt von dem, was bevorstand. Er arbeitete lang, brachte Unterlagen mit nach Hause oder saß den ganzen Abend am Computer und schrieb und mailte der halben Welt. Umgekehrt fühlte sie sich allmählich immer müder und ausgebrannter. Ihr letzter Arbeitstag rückte näher, und ihr Nachfolger wartete schon in den Kulissen. Während sie es kaum schaffte, zum Umzug und zu ihrem neuen Dasein Stellung zu beziehen, stürzte er sich auch darauf. Sie sah passiv zu, während er voller Arbeitswut lange Listen schrieb, organisierte und verhandelte. Er regelte Versicherungen und Zoll und kümmerte sich auch um Impfungen und Malariaprophylaxe. Das Einzige, worum er sie bat, war, sich darum zu kümmern, dass die Kinder aus dem Kindergarten abgemeldet wurden, und mit den Banken über Dispokredit und Überweisungen zu sprechen. Beides schob sie über Wochen vor sich her, und als er sie das fünfte Mal daran erinnerte und vergeblich versuchte, sie dazu zu bringen, sich zu den Umzugsmodalitäten zu äußern, schmiss er den Kugelschreiber mit einer hitzigen Bewegung hin und erklärte, dass »das so nicht geht«.
»Du willst nicht mit, oder? Du tust nur so, als ob! Das konnte ich doch schon im Vorbereitungsseminar deutlich sehen. Du bist dagegen!«
»Nein!«, hatte sie abgestritten. »Vielleicht ein bisschen verschreckt. Das ist schließlich kein Picknick ... Und die Kinder ...«
»Schatz, tu mir den Gefallen und sag jetzt ab! Wenn es das ist ...«
»Ich weiß nicht, was es ist. Ich bin einfach nur schrecklich müde«, war sie ausgewichen. Und hatte ihr Gesicht mit einem kleinen flackernden Lächeln erhellt.
»Bist du schwanger?«
»Mit Spirale?«
Er zuckte mit den Schultern. Beugte sich dann über den Tisch.
»Wolltest du die nicht noch rausnehmen lassen? Bevor wir abreisen?«
»Meinst du nicht, dass wir im Augenblick genug Kinder haben?«
»Es ist am tollsten, Kinder zu kriegen, wenn man weg ist. Und schließlich wollen wir vier haben, oder?«
»Vier?! No way!«
»Mindestens drei!«
»Warum willst du so viele Kinder haben?«, hatte sie gefragt und sich auf dem Stuhl zurückgezogen.
»Weil ich dich liebe! Ich liebe es, Kinder mit dir zu haben! Ich liebe es, sie mit dir zu machen, ich liebe es, mit dir schwanger zu sein, ich liebe es, mit dir zu gebären!«
»Nur die Ruhe!«, hatte sie gelächelt.
»Kinder sind doch der Sinn des Lebens, oder?«
»Hmja«, hatte sie gemurmelt und sich aufgesetzt. »Worüber wollten wir gerade reden? Die Bank und die Nachsendeanträge ...«
»Du willst also mit? Es ist eine gemeinsame Sache? Nicht nur etwas, das ich träume?«
»Hör auf, so einen Schwachsinn zu reden«, hatte sie ihn abgefertigt, während er wieder nach dem Kugelschreiber griff.
Seither hatte sie brav getan, was sie sollte. Und sogar das Projekt gegenüber den beiden einzigen Menschen verteidigt, die Skepsis ausdrückten. Elizabeth Meyer und, seltsam genug, ihre Mutter. Was ihre Mutter wirklich dagegen hatte, war nicht ganz klar. Abgesehen davon, dass sie traurig war, weil sie ihr die Enkelkinder wegnahmen. Außerdem machte sie sich Sorgen wegen der Gefahren. Aids, Tropenkrankheiten, Verkehrsunfälle, Kriminalität. Und schließlich war sie prinzipiell dagegen, dass ihre Tochter sich von einem Mann abhängig machte.
»Es ist nicht ›ein Mann‹. Es ist Thomas. Und ich werde eine Menge zu tun haben.«
»Ja, aber du wirst wohl kaum eigenes Geld verdienen, oder?«
»Man kann nicht alles am Geld festmachen.«
Ihre Mutter hatte die Lippen gespitzt, eine zollfreie Marlboro light im Mund. Sie hatte in den letzten Jahren angefangen zu rauchen, nachdem sie begonnen hatte, um die ganze Welt zu reisen, um »klüger zu werden und mich selbst ein bisschen zu verwöhnen«. Als sie Witwe geworden war, hatte sie sich mühsam und bienenfleißig abgearbeitet, hatte die Abendschule absolviert und war Krankenschwester geworden. Sie hatte ihre drei Kinder mit dem Geld versorgt, das der Verkauf des Hofs eingebracht hatte und mit der Putzstelle, die sie in einem Pflegeheim in Brønderslev angenommen hatte. Dorthin waren sie wenige Monate, nachdem »es passiert war«, gezogen. Zunächst wohnten sie in einer Sozialwohnung in einem Genossenschaftsgebäude, später kaufte ihre Mutter das kleine Reihenhaus am Stadtrand,