Aber man kann auch nicht von seinem Ruf leben. Es sei denn, man hat einen Mann, der einen versorgt. Und wer weiß, wie lange das hält.«
»So ist Thomas nicht«, hätte sie gerne geantwortet. »Er lässt uns nicht im Stich.« Aber sie redeten immer noch nicht darüber. Nie.
»Wenn wir wiederkommen, bin ich ja wieder dran ...«
»Ja, ja, das sagt ihr immer«, hatte ihre Mutter gesagt. »Ihr müsst das ja sowieso unter euch ausmachen.«
Und das mussten sie wohl. Und nicht zuletzt musste sie zusehen, sich mit der Tatsache anzufreunden, dass sie in ein paar Wochen in einem Flieger sitzen würde, auf dem Weg in ein neues Leben, dem sie einen Sinn geben musste. Es war auch notwendig, das loszulassen, was ihres war. Die Vorteile darin zu sehen, dass sie nicht mehr länger zum Wasserschutzplan Stellung beziehen oder sich über die unverschämten Methoden der Spritzmittel-Mafia aufregen musste. Und sie konnte sich auch genauso gut gleich abgewöhnen, taktisch zu denken – um wen sie sich kümmern musste, für wen sie einen Samstagskommentar schreiben sollte, welche Argumente bei welchem Umweltsprecher Eindruck machten. Sie musste nicht einmal mehr ihre Hausaufgaben ordentlich machen, denn das Risiko, dass ein Journalist sie anrufen würde, war – mit der einzigen Ausnahme Andreas Kjølbye – gleich null. Der offizielle Abschieds-Empfang hatte letzte Woche stattgefunden, und sie war überwältigt davon gewesen, wie viele gekommen waren. Sogar Søren Schouw war mit einem Strauß vorbeigekommen. Er war eingeladen, aber niemand hatte damit gerechnet, dass der Minister auftauchen würde. Nicht zuletzt, weil Charlotte ihm gegenüber nie besonders höflich gewesen war. Ganz im Gegenteil, sie hatte mündlich wie schriftlich scharfe Kritik an seinem äußerst moderaten und in vielerlei Hinsicht ziemlich schlingernden Kurs geübt. Man hatte wohl damit gerechnet, dass es gute Presse gäbe, wenn er sich mit ihr, der jungen Umwelt-Tante, im Arm fotografieren lassen würde. Er hatte sich obendrein nicht geschämt, eine Rede für sie zu halten, in der er ihr für den Kampf dankte, dafür, dass sie »für die Sache brannte«, und wünschte ihr »guten, anhaltenden Wind!«.
Charlotte war vor lauter Verblüffung und Verlegenheit fast ohnmächtig geworden. Das war genau die opportunistische Falschheit, die sie bei Politikern nicht riechen konnte. Darum bestärkte seine Show sie auch darin, dass Politik nichts für sie war. Folglich hatte sie dem Parteibüro ohne Wehmut mitgeteilt, dass sie sie vorläufig nicht mehr zu sehen bekämen und ihren Status deshalb gerne in »passives Mitglied« ändern dürften. Eigentlich war sie kurz davor gewesen, ganz auszutreten, aber sie wollte die traurige Statistik der Partei nicht noch erhöhen. Den Gefallen tat sie ihnen dann doch nicht, den Bürgerlichen.
Nach dem Wetterbericht – der Kälte ankündigte und die Aussicht auf weiße Weihnachtstage, die sie teils bei der Schwiegerfamilie in Hasseris, Aalborgs Nobelgegend, und teils bei ihrer Mutter verbringen würden – machte sie den Fernseher aus, legte eine Madonna-CD auf, schenkte sich ein Glas Rotwein ein, gestattete sich eine Eigentlich-habe-ich-aufgehört-zu-rauchen-Zigarette und beschloss, weiterzupacken. Das tat sie auch eine Stunde lang, langsam und methodisch, während sie lauschend auf Thomas’ Schritte im Treppenhaus wartete, mit wachsender Irritation darüber, warum zur Hölle er nicht langsam von dieser Weihnachtsfeier zurückkam. Nicht, weil sie es ihm nicht gönnte, sich zu amüsieren. Sondern weil sie ahnte, dass es dabei bleiben würde. Dass sie auf ihn warten würde. Die nächsten zwei Jahre.
Kurz vor elf hatte sie mit sich selbst ausgemacht, dass sie ihn auf dem Handy anrufen würde, wenn er nicht innerhalb der nächsten zwei Minuten da wäre. Es könnte ja theoretisch etwas passiert sein. Aber gerade als sie nach dem Hörer greifen wollte, klingelte das Telefon.
»Hallo, Schatz!«, sagte sie. »Wo zum Teufel bleibst du!?«
Eine zögernde Pause und dann eine fremde Frauenstimme.
»Spreche ich mit Charlotte Damgaard?«
»Ja?«, antwortete Charlotte unsicher, mit der schwachen Angst, es könnte ihm wirklich etwas zugestoßen sein.
»Hier spricht Tove Munch, ich bin die Sekretärin des Staatsministers. Er würde Sie gerne sprechen.«
Charlotte runzelte die Stirn, aber ihre Handflächen wurden feucht. In ein und demselben Moment erfasste sie die Situation zugleich messerscharf und überhaupt nicht. Aber dass das weder ein Witz noch ein Missverständnis war, verstand sie sofort.
»Entschuldigung, worum geht es?«, brachte sie gerade noch hervor.
»Das will der Staatsminister Ihnen sicher selber sagen. Ich stelle Sie durch.« Danach folgten zwei, drei rauschende Sekunden, in denen der Boden unter ihr zu schwanken begann, da sie mit einem Mal wusste, was er wollte.
»Guten Abend, hier ist Per Vittrup. Dein Staatsminister ... Wir kennen uns ja noch aus alten Tagen, nicht? Im Übrigen war dein Beitrag neulich auf dem Kongress ganz ausgezeichnet.«
»Danke«, antwortete sie heiser, während sich unter ihrem BH ein Schweißtropfen löste.
»Charlotte, sitzt du?«
»Jetzt schon«, sagte Charlotte und sank auf den Trip-Trap-Stuhl in der abgenutzten Einbauküche. Ihr Blick war starr auf den Kühlschrank fixiert, an dem Benachrichtigungen aus dem Kindergarten, Zahnarzttermine, Rezepte, Bilder und Weihnachtskarten hingen, mit bunten Magneten befestigt.
»Gut. Du weißt, dass ich dabeibin, eine Regierungsumbildung vorzunehmen?«
Charlotte nickte stumm.
»Ja, und um es kurz zu machen: Kann ich dich überreden, meine neue Umwelt- und Energieministerin zu werden?«
»Umweltministerin?«, wiederholte sie, während ein riesengroßes, orangefarbenes JA wie ein Sperrballon die ganze Küche ausfüllte. »Was ist mit Søren Schouw?«
»Um ihn kümmere ich mich«, antwortete der Staatsminister immer noch leutselig, allerdings mit einem Unterton, der deutlich machte, dass sie das nichts anging.
»Habe ich Bedenkzeit?«, fragte sie und befeuchtete ihre Lippen.
»Selbstverständlich. Eine halbe Stunde. Wir haben hier ein bisschen Hektik. Also sagen wir, du wirst in dreißig Minuten wieder angerufen?«
Später, als sie von Journalisten aufgefordert wurde, zu beschreiben, was sie gefühlt hatte, »als der Staatsminister anrief«, versuchte sie, den Augenblick zu rekonstruieren. Aber ihren ehrlichen Bemühungen zum Trotz musste sie sie damit enttäuschen, dass sie »nichts« fühlte. Nichts anderes als Leere, Unwirklichkeit und Schock. Der Lähmung nicht unähnlich, die sie an dem »schwarzen Sonntag« ihrer Kindheit empfunden hatte. Aber das erfuhren sie nicht. Sie sagte nur, dass sie weder Zeit zum Denken noch zum Fühlen gehabt hatte. Was nicht einmal wirklich gelogen war. Die ersten zehn Minuten hatte sie darauf verwendet, auf dem Trip-Trap sitzen zu bleiben und in die Luft zu starren. Sie wusste, was sie antworten würde, wenn sie denn könnte. Aber das war unmöglich. Sie musste nein sagen. Gerade als sie zu dieser Einsicht gelangt war, rief Elizabeth Meyer an. Um sich, wie sie ohne Umschweife erklärte, zu versichern, dass Charlotte »Danke, ja« sagte.
»Du kannst es dir nicht erlauben, nein zu sagen«, entschied sie, bevor Charlotte es geschafft hatte, ihre Vorbehalte zu äußern.
»Warum nicht?«
»Weil du die richtige Person zur richtigen Zeit bist. Sonst wärst du nicht gefragt worden.«
Im Anschluss rief sie Thomas auf dem Handy an. Ihre Stimme und ihre Hände zitterten, als sie ihn kurz angebunden bat, nach Hause zu kommen. JETZT.
»Was ist passiert?«, fragte er, erschrocken über ihren Tonfall, der eine Katastrophe größeren Ausmaßes verhieß. »Ist was passiert?«
»Ja. Aber nicht so was.«
»Ist was mit den Kindern?«
»Nein, nein. Komm einfach nach Hause!«
Er saß schon im Taxi und war in weniger als zehn Minuten da. Stürmte die Treppe hoch, schloss die Tür auf und fand sie versteinert und leichenblass in der Küche sitzen, in der Hand eine Zigarette und einen Cognac, eingeschenkt in ein Wasserglas.
»Was ist