Alexia Meyer-Kahlen

Wild soul


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kannst nicht nur, du musst sogar. Dein kleiner Nervenzusammenbruch heute Abend hat mir gezeigt, dass die Situation dich komplett überfordert. Und in dem Zustand bist du für Alli keine Hilfe, ganz im Gegenteil. Kati schaut nach ihr und du kommst auf ganz andere Gedanken. Es sind sowieso Sommerferien. Ich finde die Idee hervorragend!“, beharrte ihre Mutter.

      „Nee, Mama, echt nicht. Das geht nicht. Ich kann das nicht“, entgegnete Sam matt.

      Ihre Mutter gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Schlaf drüber und morgen reden wir noch mal. Ich bin sehr dafür, dass du fährst!“

      Sie saß wieder auf der Sandbank am Flussbett. Der große Schwarzgraue hatte seine Herde zum Wasser geführt, und alle tranken, während er wie immer die Stuten bewachte.

      Plötzlich hob eine kleine Stute den Kopf und schaute Sam direkt an. Sie hielt den Atem an. Noch nie zuvor hatte eines der Pferde mit ihr Blickkontakt aufgenommen. Sie wagte nicht, sich zu rühren.

      Auch die Stute bewegte sich keinen Millimeter, blickte sie einfach nur unverwandt aus ihren großen dunklen Augen an.

      Sie war von einem goldschimmernden Braun, interessanterweise ohne Tigerschecken-Zeichnung, und eine lange, schmale Blesse zog sich über ihren ganzen Kopf. Das Auffällige an ihr war aber ihre unglaublich lange silbergraue Mähne. So ungewöhnlich wie ihre Farbkombination war auch die Ausstrahlung der Stute. Sie war nicht mehr ganz jung und strahlte etwas Erfahrenes und Weises aus. Gleichzeitig zeugte ihr Blick von einer freien und wilden Seele, die sich noch nie einem Menschen geöffnet hatte. Fasziniert verharrte Sam, in den Augen der Stute versunken. Plötzlich begannen sich wie von allein Worte in ihrem Kopf zu formen.

       „Ich warte auf dich.“

      Ihr Herz begann, wie verrückt zu klopfen, während die Stute Sam weiter unvermittelt anblickte.

       „Ich warte auf dich“ – hatte sie das gerade zu der Stute gesagt oder war das von der Silbermähne gekommen? Oder von ihnen beiden?

      In diesem Moment wachte Sam auf.

      Als sie verschlafen die Küche betrat, saß ihre Mutter noch am Frühstückstisch und machte gerade die Wochenend-Einkaufsliste.

      Sie blickte auf. „Und, mein Schatz? Geht es dir besser?“

      Sam nickte.

      „Ich habe gute Nachrichten“, fuhr Bea Gerst fröhlich fort. „Gestern Abend noch habe ich Jon und Rosa Redheart eine Mail geschickt und heute Morgen war schon die Antwort da. Du kannst zu ihnen kommen und sechs Wochen auf ihrer Farm arbeiten. Passt doch perfekt, oder?“

      Sam starrte ihre Mutter ausdruckslos an, doch die fuhr unbekümmert fort: „Die Redhearts sind mit ihren Pferden im Nordosten Oregons, im Wallowa Valley. Ich habe Bilder gesehen, es ist wunderschön dort. Flüge habe ich auch schon gecheckt: Es gibt in drei Tagen einen nach Seattle, wo ich für dich einen Last-minute-Platz bekommen könnte, und von dort weiter nach Portland. Von da müsstest du dann mit dem Überlandbus fahren, Rosa hat geschrieben, dass es noch mal gut acht Stunden sind. Aber das ist ja kein Problem.“

      Sie machte eine kurze Pause und blickte Sam erwartungsvoll an. „Was sagst du?“

      „Ihr könnt mich gar nicht schnell genug loswerden“, grunzte Sam und schenkte sich einen Kakao ein.

      „Das heißt, du fährst?“

      Sam zögerte mit einer Antwort. Ihr Kopf fühlte sich merkwürdig wattig an.

      „Kann ich dir heute Mittag Bescheid geben?“, hörte sie sich sagen.

      Bea Gerst nickte. „Vor zwölf bitte, so lange kann ich den Flug reservieren.“

      „Einverstanden“, gab Sam zurück.

      Am Gatter von Alegrías Weide angekommen, schaute Sam der kleinen Herde erst mal eine ganze Weile still beim Grasen zu. Aus der Ferne konnte man meinen, dass mit Alli alles in Ordnung war, wie sie da friedlich mit abgesenktem Kopf an den Grashalmen rupfte. Richtig zufrieden sah sie aus.

      Sam schlüpfte unter dem Zaun hindurch. Die kleine Spanierin hob den Kopf und blickte ihr aufmerksam entgegen, während Sam sich langsam näherte. Bei Alli angekommen, setzte sie sich vor ihrer Stute ins Gras.

      Wie immer begann Alli als Erstes, Sam zärtlich abzuschnobern.

      „Na?“, flüsterte Sam. Sie strich Alli über die Nase. „Wie geht es dir heute, meine Schöne?“

      Alli schnaubte und wandte sich ungerührt wieder dem Gras zu.

      Sam sah ihr eine Weile dabei zu, wie sie genüsslich Büschel für Büschel vertilgte, und lauschte auf das gleichmäßige Rupfgeräusch. Irgendwie hatte es eine total beruhigende Wirkung.

      „Soll ich fahren?“, flüsterte sie.

      Die anderen Pferde bewegten sich langsam zum entgegengesetzten Ende der Weide. Alli hob plötzlich den Kopf, als bemerke sie erst jetzt, dass sich ihre Herde entfernte. Umständlich drehte sie sich um und tappte den anderen tollpatschig hinterher. Für einen kurzen Moment zog sich Sams Herz schmerzhaft zusammen.

      Dann murmelte sie: „Du hast recht, meine Schöne. Danke.“

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