Alexia Meyer-Kahlen

Wild soul


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Sam hastig hinzu.

      „Und ja wohl auch alles dazwischen“, meinte Sophie trocken.

      Sam warf ihrer jüngeren Schwester einen wütenden Blick zu. Wie konnte sie nur so gefühllos sein?

      „Ich möchte noch mal wiederholen, was Dr. Sälzer gesagt hat“, versuchte Bea Gerst, die aufflackernde Spannung zwischen ihren Töchtern zu lösen. „War die Kompression des Rückenmarkes einmalig, kann sich das Symptom unter Umständen von selbst verringern. Eine abwartende Haltung ist also laut Dr. Sälzer gerechtfertigt.“

      Thomas Hofmann, der Vater von Kati, räusperte sich. „Also, wenn ihr die Einschätzung eines Außenstehenden haben wollt, dann können wir doch nichts verlieren, wenn wir das Pferd erst mal acht Wochen auf der Weide stehen lassen. Danach muss man dann schauen, was der Stand ist und wie es weitergeht.“

      Robert Gerst nickte. „Thomas hat recht. Gleichzeitig muss euch beiden, Sam und Kati, aber auch bewusst sein, dass wir es uns nicht leisten können, ein Pferd durchzufüttern, das nicht mehr reitbar ist.“

      Sam schossen sofort die Tränen in die Augen. „Das ist mir egal. Dann höre ich eben mit dem Reiten auf. Wir dürfen Alli auf gar, gar, gar keinen Fall weggeben.“

      Auch Kati lief bei dem Gedanken, sich vielleicht in acht Wochen von der kleinen Spanierin trennen zu müssen, ein Strom von Tränen über die Wangen.

      „Es hat doch keinen Sinn, sich jetzt verrückt zu machen“, schaltete sich Anja Hofmann ein. „Warten wir es doch einfach mal ab.“

      Mit dem Stallbesitzer war vereinbart worden, dass Alli in den kommenden zwei Monaten zusammen mit einer kleinen Herde, die sie kannte, auf einer entlegenen Sommerweide bleiben sollte. Sam und Kati besuchten sie dort jeden Tag. Alli fühlte sich in der Herde offenbar sehr wohl und genoss es, Tag und Nacht draußen zu sein. Wie Dr. Sälzer gesagt hatte, schien sie an keinerlei Schmerzen zu leiden.

      Für Sam waren die Besuche eine einzige Tortur. Ihre schöne Stute mit den abstrus-tollpatschigen Bewegungen der Ataxie über die Weide torkeln zu sehen, brach ihr wieder und wieder das Herz. Hinzu kamen die gehässigen Bemerkungen der Leute am Stall. Mehr als einmal mussten sie und Kati sich Sätze anhören wie: „So ein Pferd braucht kein Mensch“, „Die wäre früher direkt weggekommen“ oder: „Erlöst den armen Gaul doch. Ihr quält den nur“.

      „Wie hältst du das alles nur aus?“, stieß Sam verzweifelt hervor, als sie und Kati nach einer besonders gemeinen Bemerkung einer Stallkollegin nach Hause radelten.

      „Weiß auch nicht“, gab Kati zurück. „Ich fühle mich wie in einem Tunnel. Ich schaue nur auf den Tag x in acht Wochen, wo wir erfahren werden, wie es um Alli steht. Und bis dahin, sage ich mir, ist alles offen.“

      Sam seufzte. Sie wurde gequält von Schuldgefühlen über die blöde Szene in der Halle mit Alli und dem Tuch. Da hatte Alli schon ihre ersten Symptome gezeigt, ohne dass Sam es gemerkt hatte. Ganz im Gegenteil hatte sie es für bloße Sturheit gehalten. Ihre Alli hatte Schmerzen gehabt, und sie hatte sie auch noch gezwungen, immer und immer wieder die Biegung zu versuchen.

      „Das eine hat doch mit dem anderen rein gar nichts zu tun“, versuchte Kati in ihrer pragmatischen Art, die Freundin zu beruhigen.

      Doch Sams Gedanken kehrten immer wieder zu dem Nachmittag zurück. Auch wenn ihr Verstand wusste, dass sich die Ataxie genauso gut zu jedem anderen Zeitpunkt hätte zeigen können, war sie genau da zum ersten Mal aufgetreten. Als sie unfair zu Alli gewesen war. Als sie das Vertrauen der kleinen Spanierin enttäuscht hatte.

      Wie unter Zwang musste sie sich vor dem Einschlafen immer wieder ihre ganzen Videos auf YouTube anschauen und wieder und wieder die Aufzeichnung ihrer Show vom Cavallo Cup. Ein Teil von Sam konnte und wollte nicht realisieren, dass das alles vielleicht für immer vorbei sein sollte.

      Wie hatte sie zu ihren Eltern gesagt? Dann höre ich eben mit dem Reiten auf. Sam spürte, dass das nicht die Wahrheit war. Sie konnte gar nicht aufhören. Pferde waren ihr Leben. Und der Welt zu zeigen, was man mit Vertrauen und Geduld bei einem Pferd erreichen konnte, war ihre Bestimmung, das fühlte sie ganz tief innen drin. Doch was, wenn Alli wirklich nicht mehr okay werden würde? Wenn sie verdammt war, für den Rest ihres Lebens als Krüppel über irgendwelche Weiden zu torkeln? Und was, wenn sie sich entscheiden musste zwischen einer Zukunft als Pferdefrau und Alli zu behalten?

      Sam hatte das Gefühl, dass ihr Kopf zerplatzte. So durfte sie nicht denken. Warum konnte sie nicht sein wie Kati? Jetzt einfach alles beiseiteschieben und in acht Wochen schauen, was war. Allen schien das zu gelingen, nur nicht ihr.

      Eines Abends machte sich ihre ganze angestaute Verzweiflung Luft. Die Familie saß beim Abendessen, es wurde über Alltägliches geredet. Als Sophie gerade irgendetwas von ihrem neuen Tennis-Camp plapperte, sprang Sam plötzlich auf.

      „Wie könnt ihr nur so tun, als wäre nichts?“, schrie sie. „Euch allen ist Alli doch komplett scheißegal.“

      Ihre Eltern blickten sie vollkommen überrumpelt an.

      „Sam, bitte …“, setzte Bea Gerst an.

      Doch Sam war außer sich. „Seht ihr nicht, wie irre das ist? Alli torkelt da draußen rum und wird vielleicht nie wieder die Alte sein und ihr macht hier business as usual. Da stimmt doch was nicht.“

      „Es gibt jetzt im Moment absolut nichts, was wir tun können, und das weißt du“, schaltete sich ihr Vater ruhig ein.

      Sam brach in einen unkontrollierten Weinkrampf aus und rannte türenknallend in ihr Zimmer.

      Nach einiger Zeit hörte sie ein sachtes Klopfen. Als sie nicht antwortete, öffnete ihre Mutter die Tür einen Spaltbreit.

      „Darf ich zu dir kommen?“

      Sam lag auf dem Bett und wurde von Tränen geschüttelt.

      Ihre Mutter setzte sich neben sie, ohne eine Antwort abzuwarten. „Ist grade alles ziemlich viel, hmmm?“ Sie strich Sam über den Rücken, die daraufhin noch mehr weinen musste. „So ist gut. Heul es einfach raus“, ermunterte ihre Mutter sie.

      Irgendwann waren die Tränen tatsächlich versiegt und Sam fühlte sich vollkommen leer.

      „Magst du mit mir reden?“, fragte Bea Gerst sanft.

      Sam meinte zunächst, keinen Ton rauszubringen. Doch schließlich kamen Worte aus ihrem Mund: „Das mit Alli … ich hab so ein schlechtes Gewissen. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass es meine Schuld ist, dass sie diese schlimme Krankheit bekommen hat.“

      Bea Gerst nahm ihre Tochter in den Arm. „Wie kommst du denn nur auf so einen Unsinn. Es ist dein Verdienst, dass sie heute so gut dasteht. Wenn du und Kati euch nicht so reingehängt hättet, wer weiß, was mit ihr passiert wäre …“

      Sam schüttelte verzweifelt den Kopf. „Als sie mich am meisten gebraucht hat, als es ihr schon nicht gut ging und sie Schmerzen hatte, habe ich ihr noch mehr abverlangt. Wo ich den Mund immer so voll nehme von wegen Vertrauen und Geduld ist die Basis für alles. Ich habe selbst das komplette Gegenteil davon getan. Es kommt mir vor, als wäre ihre Krankheit wie eine Strafe dafür.“

      „Sam, das ist kompletter Unsinn. Und du weißt das“, ermahnte sie ihre Mutter.

      „Und wenn es nicht wieder weggeht?“, fuhr Sam verzweifelt fort. „Ich könnte Alli um nichts in der Welt abgeben, am allerwenigsten in diesem Zustand. Aber ich weiß, dass ich auch nicht aufhören kann, mit Pferden zu arbeiten. Was soll ich dann nur machen?“

      „Mein armer Schatz“, flüsterte ihre Mutter, „du machst dir viel zu viele unnötige Gedanken. Du musst die Brücke erst suchen, wenn du am Fluss stehst.“

      „Das sagt Kati auch immer“, entgegnete Sam, „aber ich kann das irgendwie nicht.“

      Bea Gerst richtete sich auf. „Weißt du, was? Mir ist gerade eine Idee gekommen.“

      Sam hörte ihr gar nicht richtig zu, doch ihre Mutter sprach einfach weiter. „Papa und ich wollten dir zu Weihnachten