seufzte auf. Kati kannte sie und Alli besser als irgendjemand sonst auf der Welt. Hoffentlich hatte sie recht.
Plötzlich kamen ihr die Worte aus Katis Spruch wieder in den Sinn: Ich bin nicht hier, um die Natur zu beherrschen oder sie auszubeuten. Ich bin selbst Natur.
Und was, wenn es hieß: Ich bin nicht hier, um das Pferd zu beherrschen oder es auszubeuten. Ich bin selbst Pferd?
Konnte man wirklich dahin kommen, das zu spüren? Dass man im Fühlen, Denken und Handeln komplett eins war mit seinem Pferd?
Sams Herz begann, wild zu klopfen. Ich bin selbst Pferd. Ja, genau so musste es heißen, und irgendwann würde sie aller Welt zeigen, dass das möglich war.
Nach nicht einmal zwei Stunden Schlaf wachte Sam erneut auf. Draußen wurde es gerade hell. Der Wecker würde sowieso um Viertel nach fünf klingeln, da konnte sie auch jetzt schon zu Alli fahren.
Ihrer Mutter legte sie einen Zettel hin: „Hi Bea. Bin schon zum Stall. Wir wollen um halb 7 verladen. Es reicht, wenn du mit dem Hänger 6.15 da bist. Danke! Sam.“
Sie griff sich zwei Äpfel, einen für sich und den anderen für Alli, schwang sich auf ihr Fahrrad und radelte los. Es war nicht ungewöhnlich, dass Sam noch vor der Schule die sieben Kilometer zum Stall fuhr, um mit Alegría in Ruhe etwas zu üben. In dem modernen Freizeitstall standen über achtzig Pferde, und auch wenn die Anlage sehr weitläufig war, benutzte immer irgendwer die Halle, den Roundpen oder einen der beiden Außenplätze. Und abends war es sowieso rappelvoll.
Zu diesen Zeiten war es Sam und Kati nicht möglich, mit Alli frei zu arbeiten – es sei denn, sie gingen mit ihr ins Gelände. Die Freundinnen hatten keine Lust auf Gaffer, und viele im Stall fanden das, was sie mit Alli machten, sowieso total schräg und auch irgendwie beängstigend.
„Pferde sind dazu da, geritten zu werden, und nicht, Menschen hinterherzulaufen“, kam ihr die Stimme einer entrüsteten Pferdebesitzerin in den Sinn, die beobachtet hatte, wie Sam mit Alli das freie Folgen im Schritt, Trab und Galopp übte.
Manchmal kam es ihr so vor, als seien sie und Kati auf einem ganz anderen Planeten als der Rest der Pferdewelt – von ein paar Ausnahmen abgesehen.
Klar, ihr Weg war nicht immer einfach. Wie oft hatte es in den letzten drei Jahren mit Alli Diskussionen, Frustrationen und Rückschritte gegeben. Doch Kati und sie hatten gelernt, jeden Tag einfach nur ihr Bestes zu geben. Es ging in jedem Moment eben nur, was ging. Das musste man akzeptieren. Geduldig sein, das Ziel nicht aus den Augen verlieren. Und vor allem, niemals aufgeben. Dann wurden die guten Tage irgendwann mehr. Und jetzt würde sie ihre erste Live-Show mit Alli geben. Unfassbar!
Die hübsche braune Andalusierstute mit dem weißen Stern zwischen den Augen brummelte zärtlich, als Sam sich im frühen Morgenlicht durch die Stallgasse schlich. Allis Herdenkumpel waren alle auf der Weide, aber sie schien zu fühlen, dass es einen besonderen Grund gab, warum sie in der Box zurückgeblieben war.
„Na, meine Schöne“, flüsterte Sam und trat zu ihr.
Alli schnoberte behutsam Sams Gesicht und Hals ab.
Sam liebte diese Momente der Nähe und hielt ganz still, bis Alli ihr Begrüßungsritual beendet hatte. Immer wenn die Stute ihre Zuneigung so spontan ausdrückte, wurde Sam von einer Welle der Dankbarkeit durchflutet. Die kleine Spanierin war so eine Kämpferin. Sie wollte leben, lernen und glücklich sein. Und hatte Sam trotz aller Schwierigkeiten niemals im Stich gelassen.
„Du warst immer für mich da. Und ich werde immer für dich da sein“, flüsterte Sam ihr zu und gab ihr einen sanften Kuss auf die Nase. „Und wir werden gemeinsam noch soooo viele Abenteuer bestehen.“
Als verstehe sie jedes Wort, spitzte Alli die Ohren und blickte Sam aufmerksam an.
„Heute ist der Beginn von etwas ganz Großem, meine Schöne“, fuhr Sam fort. „Heute dürfen wir vielen Menschen zeigen, wie toll du dich entwickelt hast. Und wie stolz wir alle auf dich sind!“
Alli stupste Sam übermütig mit der Nase an, als wolle sie sagen: Ich bin bereit. Wann geht’s los?
Obwohl Sam schon so früh aufgestanden war, verlief die Abfahrt wie üblich chaotisch. Tausend Sachen fielen ihr in letzter Minute noch ein, die sie unbedingt mitnehmen musste, und dabei vergaß sie fast die wesentlichen Dinge. Auch Kati, die um halb sechs am Stall aufgetaucht war, war vor lauter Aufregung nicht so organisiert wie sonst. Dreimal lief sie los, um das Putzzeug zu holen, doch erst als sie schon eine Stunde unterwegs waren, fiel Kati ein, dass sie es doch hatte stehen lassen.
„Zum Glück ist Alli schön sauber. Wir müssen nur aufpassen, dass sie sich dort vor der Show nicht noch in irgendwelche Äppel legt, dann passt das schon“, meinte Sam gelassen.
„Eure Nerven möchte ich haben“, warf ihre Mutter kopfschüttelnd ein.
Bea Gerst hatte sich breitschlagen lassen, die beiden Mädchen samt Alli nach Schloss Wickrath zu fahren. Aber natürlich war sie auch gespannt darauf, wie ihre Tochter und Alegría sich präsentieren würden.
„Es ist wie verhext“, meinte Sam jetzt. „Egal, wie viel wir vorausplanen, es läuft bei uns einfach nie nach Plan. Wer da nicht spontan und flexibel ist, bekommt mit uns wirklich die Krise.“
„Das kannst du wohl laut sagen“, lachte ihre Mutter in gespielter Verzweiflung auf. „Mich wundert nur, wo ihr die Disziplin herholt, so fokussiert mit Alegría zu arbeiten.“
„Am Ende hat zum Glück immer alles geklappt“, warf Kati ein. Ihre Eltern und die Gersts waren gut befreundet, sodass sie Beas ironische Kommentare nicht persönlich nahm.
„Wenn Sophie mitgekommen wäre, würde sie uns jetzt erst mal einen Vortrag über effiziente To-do-Listen halten“, grinste Sam. Ihre drei Jahre jüngere Schwester war wirklich das komplette Gegenteil von ihr. Sophie war genau in dem Alter, in dem Sam damals Alli bekommen hatte, doch für Pferde interessierte sie sich keinen Deut. Gnädig hatte sie ihre Mutter mit Sam auf den Cavallo Cup nach Schloss Wickrath ziehen lassen.
„Sam. Ruf doch bitte mal zu Hause an, ob bei Sophie alles in Ordnung ist“, meinte Bea Gerst jetzt. Sie hatten geplant, erst am nächsten Tag wieder zurückzufahren, damit die ganze Fahrerei für Alli nicht zu viel würde. „Ich habe schon ein ganz schlechtes Gewissen, die Kleine allein zu Hause zurückzulassen.“
„Mama, Sophie ist 12!“, rief Sam nun entrüstet aus. „In dem Alter sind Kati und ich mit Alli schon stundenlang allein durch die Wälder gezogen.“
„Du bist eben immer etwas anders gewesen“, gab ihre Mutter zurück. „Sophie ist nicht so ein Freigeist. Sie ist noch so viel kindlicher als du in dem Alter.“
„Aber Robert ist doch heute Abend zu Hause“, versuchte Kati, Sams Mutter zu beschwichtigen.
„Genau. Papa ist doch auch noch da“, gab Sam zurück. „Alles ist gut, Mama.“ Damit war das Thema für sie erledigt.
Sie wandte sich Kati zu. „Hey. Lass uns bitte noch mal den Ablauf durchgehen.“
Die Freundinnen besprachen ausführlich die Choreografie von Sams Show, die sie in den letzten Tagen zu einer fröhlichen spanischen Musik zusammengestellt hatten.
Zuerst kam der Teil, wo Sam Alli nur mit Halsring und ohne Sattel in verschiedenen Tempo- und Richtungswechseln ritt. Dann wollte sie die Stute durch einen großen gelben Ring springen lassen, und im Anschluss sollte Alli sich in engen Kreisen galoppierend um eine Tonne biegen, ohne dass Sam auf ihrem Rücken sie zu lenken schien.
„Den Ring und die Tonne haben wir eingepackt, richtig?“, hakte Sam nach.
„Check. Sind im Hänger“, nickte Kati.
Zum Abschluss des ersten Teils würde Sam ein paarmal im Galopp von Alli abspringen und nach ein paar Galoppsprüngen wieder auf ihren Rücken hinaufspringen.
Dann ging es zum Herzstück ihrer Show. Sam wollte Alli vom Boden aus als Erstes zu beiden Seiten in engen Volten dirigieren. Anschließend