Tigerschecken-Zeichnung aufwiesen wie der Schwarzgraue.
Im Traum hielt Sam den Atem an, während sie auf einer flachen Sandbank am Flussufer kauerte. Die Pferde strahlten etwas überirdisch Schönes aus.
Die Stuten und Fohlen schienen sich an Sams Anwesenheit ebenfalls nicht zu stören. Ein Pferd nach dem anderen senkte seinen Kopf zum Fluss und begann zu trinken. Auch die etwas älteren Fohlen versuchten, mit ihrer Nase den Wasserspiegel zu erreichen, was ihnen aufgrund ihrer langen, staksigen Beine aber kaum gelang.
Während die Stuten ihren Durst löschten, blieb der grau gefleckte Hengst abseits stehen und nahm weiterhin aufmerksam seine Umgebung wahr. Sein Blick streifte unbewegt über Sam, als wäre sie einfach ein Teil der ihn umgebenden Natur.
Als die letzte Stute sich vom Wasser abgewandt hatte, trat der große Schwarzgraue noch mal selbst an den Fluss und trank sich in großen Zügen satt. Dann drehte er sich zum Waldrand und verschwand mit seiner Herde zwischen den Bäumen.
An dieser Stelle erwachte Sam normalerweise immer und spürte ihr klopfendes Herz.
Sie drehte sich auf den Rücken und blickte an die Decke ihres Zimmers. Warum nur rief der Traum in ihr jedes Mal so starke Gefühle hervor? Er kam seit drei Jahren in unregelmäßigen Abständen und spielte sich stets so oder so ähnlich ab. Doch jeder Version war gemein, dass die ungewöhnlichen Geschöpfe, die offenbar vollkommen frei in der atemberaubend schönen Natur des Traumes lebten, sich durch Sams Anwesenheit in keinster Weise aus der Ruhe bringen ließen.
Zum ersten Mal aufgetaucht war der Traum, kurz nachdem ihre Mutter Alegría gekauft hatte. An Sams zwölften Geburtstag. Die knapp vierjährige Andalusierstute war damals im Schulbetrieb des Stalles mitgelaufen, in dem Sam und Kati Reitstunden nahmen. Halb, um sie aus ihrem Schulpferdedasein zu erlösen, und halb, weil ihre Mutter überzeugt war von Alegrías gutem Charakter, wurde die junge Stute Sams Pferd. In den letzten drei Jahren hatte sich Alli, wie Sam sie zärtlich nannte, zu einer selbstbewussten Spanierin entwickelt und war für jeden Spaß zu haben. Es störte sie ganz und gar nicht, wenn Sam mal wieder auf irgendwelche verrückten Ideen kam, wie falsch herum auf ihr zu reiten, im Galopp auf ihrem Rücken zu stehen oder auf dem am Boden liegenden Pferd einen Handstandüberschlag zu machen.
Sam griff nach ihrem Wecker. Halb zwei. Mist. Sie musste morgen fit sein. Alli und Sam hatten es ins Finale des Cavallo-Videowettbewerbs geschafft und morgen in aller Frühe ging es mit dem Hänger nach Schloss Wickrath. Dort würde die bekannte Pferdezeitschrift nach den Live-Darbietungen der fünf Finalisten das „beste Kumpel-Pferd Deutschlands“ auswählen. Es war der Hammer, dass sie überhaupt unter die letzten fünf gewählt worden waren. Noch viel mehr bedeutete es Sam allerdings, dass es ihre erste Show vor einem großen Publikum sein würde und sie endlich auch mal live zeigen konnte, was sie und Alli in der Freiheitsdressur erreicht hatten.
Seit sie mit elf Jahren auf einer Galashow einen berühmten französischen Meister der Freiheitsdressur gesehen hatte, dem seine zehn Pferde allesamt mit viel Freude folgten, wusste sie: Genau da wollte sie eines Tages auch mal stehen. Ganz frei mit einem Pferd diese Art von Verbindung zu haben, egal ob da eine Umzäunung stand. Und diese Verbindung auch zu spüren, wenn sie auf dem Rücken des Pferdes ohne Zaum und Sattel galoppierte. Das Gefühl musste einfach unbeschreiblich sein.
Jetzt war sie fünfzehn und ihrem Herzenswunsch ein gutes Stück näher gekommen, auch wenn sie noch lange nicht da war, wo sie einmal sein wollte.
Ob sie Kati texten sollte, dass sie wieder den Traum gehabt hatte? Kati – allerbeste Freundin, Seelenvertraute und unverzichtbare Partnerin in der Arbeit mit Alli.
Es war zu einem guten Teil Katis unermüdlicher Unterstützung zu verdanken, dass Alli heute mit Sam durch dick und dünn ging und ihre echte Freundin und Lehrmeisterin geworden war.
„Bling.“ Genau in diesem Moment tauchte eine Nachricht auf Sams Display auf. „Kann nicht schlafen. Guck mal, was für ein cooles Zitat ich grade gelesen habe: Ich bin das Land, meine Augen sind der Himmel, meine Glieder die Bäume, ich bin der Fels, die Wassertiefe. Ich bin nicht hier, um die Natur zu beherrschen oder sie auszubeuten. Ich bin selbst Natur. Hoffentlich läuft morgen alles gut.“
Sam musste lächeln. Typisch Kati. Seit sie sich zu Beginn der 5. Klasse begegnet waren – die eine im Pferdepulli, die andere mit Pferdemäppchen –, waren sie immer auf genau derselben Wellenlänge.
„Bin auch wach“, textete Sam zurück. „Hatte wieder den Traum.“
„Echt? Meinst du, es hat was mit morgen zu tun?“
„Weiß nicht. Vielleicht ist es ja ein gutes Zeichen.“
„Wie findest du den Spruch?“
Sam las ihn noch mal: Ich bin das Land, meine Augen sind der Himmel, meine Glieder die Bäume, ich bin der Fels, die Wassertiefe. Ich bin nicht hier, um die Natur zu beherrschen oder sie auszubeuten. Ich bin selbst Natur.
„Irgendwie krass. Das beschreibt genau die Atmo in meinem Traum. Woher hast du den?“
„Im Internet gefunden“, schrieb Kati zurück. „So ein Indianerspruch.“
„Cool. Können wir ja auf unserem Kanal posten.“
„Hab ich auch schon gedacht.“
Als Sam mit Kati vor drei Jahren einen YouTube-Kanal gestartet und kleine Filmchen eingestellt hatte, wie sie mit Alli wild johlend durch die Obstplantagen galoppierten, hätte niemand gedacht, dass sie mal so weit kommen würden. Jetzt waren sie schon bei über 10 000 Followern.
„Hey. Meinst du, wir haben morgen eine Chance?“
Kaum hatte Sam die Worte eingetippt, ärgerte sie sich, dass sie sie geschrieben hatte. Darauf kam es doch gar nicht an. Wichtig war, dass Alli mit ihrer Aufmerksamkeit ganz bei ihr blieb, wenn sie zum ersten Mal in total fremder Umgebung und vor so vielen Leuten miteinander frei arbeiteten. Wenn sie zusätzlich noch unter die ersten drei kämen, konnte das der Anfang eines neuen Weges sein – mit Einladungen zu weiteren Shows oder der Möglichkeit für Sam, auch mit anderen Pferden frei zu arbeiten. Aber das war jetzt total zweitrangig.
Schon texte Kati zurück: „Wenn ihr es nicht verdient habt, auf dem Treppchen zu stehen, dann weiß ich nicht, wer.“
„Du bist die Beste!“
„Du auch.“
Sam wälzte sich im Bett hin und her. Sie wusste, dass sie versuchen sollte zu schlafen, doch ihre Gedanken kehrten immer wieder zum morgigen Tag zurück. Würde ihr Auftritt die Leichtigkeit und Harmonie ausstrahlen, die ihr in der Verbindung zu Alli so wichtig war? Das Bewerbungsvideo aus dem ganzen Material zusammenzuschneiden, das Kati in den letzten Monaten gefilmt hatte, war eine Sache gewesen. Klar hatten sie dort viele tolle Elemente aus ihrer Arbeit gezeigt: wie Alli Sam draußen in der Natur frei im Galopp über Hindernisse folgte, wie sie sich auf Sams Kommando auf die Hinterhand setzte oder stieg, wie sie zusammen Ball spielten oder die Stute ihr Küsschen gab. Und natürlich durfte Sams Spezialität im Video nicht fehlen: der Handstandüberschlag auf der liegenden Alegría.
All das war schön und eindrucksvoll und sicher auch der Grund dafür gewesen, dass sie es ins Finale des Cavallo Cups geschafft hatten. Doch in der Show morgen musste sie das toppen.
Keiner außer Kati und Sams Mutter Bea konnte nachvollziehen, was für ein langer und mühseliger Weg es gewesen war, aus dem abgestumpften Schulpferd, das sich in seinen jungen Jahren schon in sein Schicksal ergeben hatte und nichts mehr vom Leben erwartete, das Bündel an Lebendigkeit und Freude zu machen, das Alli heute war.
Jedenfalls meistens, denn einstudierte Dinge abzufragen war bei Alegría immer noch tagesformabhängig. Manchmal schaltete sie einfach ab, wie sie es damals als Schulpferd getan hatte, und verlor sich irgendwo in sich selbst. Aber das alles war in den vergangenen drei Jahren so viel besser geworden!
Jetzt musste sich zeigen, ob Alegría wirklich Gefallen daran fand, sich vor einem Publikum zu präsentieren.
Ein Grinsen schlich sich auf Sams